Stachel der Erinnerung
„Vielleicht sind die Ketten keine Ketten, sondern Teil eines Spiels. Vielleicht ist das Schiff eine Bühne gewesen.“
„Das hatten wir bisher aber auch noch nie“, gab Tessa zu bedenken. „Und ich halte es auch nicht für wahrscheinlich. Wo sollten die Zuschauer gesessen haben? Wir haben keine Bänke gefunden.“
„Wenn das Schiff in einem Tal oder in einer Senke stand, könnte sich das Publikum auf dem Hang darüber befunden haben“, meinte Berit. „Aber du hast recht, das wäre verdammt aufwendig gewesen. Nur ein König, ein Fürst, hätte sich Derartiges erlauben können. Und bisher ist von Bjørendahl nichts bekannt, was darauf schließen lässt, dass es hier überhaupt eine Wikingerzivilisation gab, von kulturellen Raffinessen ganz zu schweigen..“
„Wen könnten wir wegen der unbekannten Runen fragen? Ich hab schon nachgedacht, aber mir will niemand einfallen“, sagte Tessa und rahmte ein Zeichen auf ihrem Notizblock ein.
„In New York habe ich einen Dechiffrier-Spezialisten kennengelernt, wenn wir in Oslo am Institut niemanden finden, wäre das einen Versuch wert“, schlug Berit vor. Sie kannte Gott und die Welt, war mit Leuten auf Du und Du, die Tessa gerade aus Gesellschaftskolumnen kannte, und ließ sich auch nicht durch Anrufe von Fernsehjournalisten aus der Ruhe bringen.
Ein Blitz zuckte über die dunklen Wolken und die beiden Frauen sahen gleichzeitig aus dem Fenster. Der Regen fiel in dicken geraden Fäden vom Himmel. „Du hast recht gehabt mit dem Wetter. Da würden wir nett ausschauen, wenn wir rausgefahren wären“, fügte Tessa hinzu.
„Bin gespannt, wie lange Hendrik noch aushält“, meinte Berit, ehe sie sich wieder über die Zeichen an den Ketten hermachte. Keine Stunde später wussten sie es, da ein Haufen tropfnasser Männer vor ihnen stand.
„Nichts zu machen bei dem Wolkenbruch“, sagte Hendrik. „Ich geh mal heiß duschen. Wer kommt mit?“
Auffordernd zwinkerte er Tessa zu, die nur den Kopf schüttelte. Berit blickte von ihren Notizen nicht einmal hoch. Auch nicht, als er wenig später in Jeans und einem dicken dunkelblauen Strickpullover zurückkehrte und sich einen Stuhl zu ihnen heranzog.
„Hab ihr mich vermisst, meine Schönen?“
Berit schrieb noch immer auf ihren Block. „Wie eine Gallenkolik, mein Lieber.“
„Es muss wohl erst Mitternacht vorbei sein, damit du deine Krallen einziehst, Frau Doktor Olsen“, entgegnete er und wandte sich an Tessa. „Du hast dir doch sicher Sorgen um den alten Hendrik gemacht?“
Sie räusperte sich und ignorierte den warnenden Blick, den Berit ihr zuwarf. „Immerhin bist du kein Anfänger und weißt, was du tust. Das hoffe ich zumindest.“
„Ein schlichtes „Hendrik, ich bin vor Angst um dich fast gestorben“ täte es auch.“ Er schüttelte tadelnd den Kopf und stand auf. „Ich besorge mir heißen Grog oder etwas in der Art. Kommt ihr mit, Männer?“
Die Gruppe marschierte geschlossen in den Frühstücksraum und Berit beugte sich mit anerkennendem Lächeln zu Tessa. „Gut gemacht, genau so muss man ihn behandeln.“
„Findest du?“ Ihre Antwort klang lahm. Kein Wunder, denn natürlich hatte sie an ihn gedacht und was ihm da draußen bei dem Schiff alles passieren könnte. Wüste Szenarien, wie ihn der Blitz erschlug oder er mitsamt dem Schiff in Flammen aufging, spukten durch ihr Gehirn. Aber natürlich war Berit die Letzte, mit der sie darüber reden konnte. Oder wollte.
Als Hendrik mit einem Tablett, auf dem eine Kanne Tee samt Schale und zwei Minifläschchen Rum standen, zurückkam und sich wieder an ihren Tisch setzte, lächelte sie ihm deshalb freundlich zu. Aber er ging nicht darauf ein.
„Seid ihr weiter gekommen mit … mit was auch immer?“, fragte er ohne großes Interesse.
„Nun ja, ein bisschen. Und, gibt es bei dir etwas Neues?“ Tessa beobachtete ihn, wie er den Tee eingoss und Rum und Zucker einrührte.
„Nein. Ich werde eine Spezialmaschine anfordern, damit wir den Gletscher präziser einschneiden können. Laut Statik sollte der Boden das Gewicht aushalten.“
Berit hob jetzt doch den Kopf. „Wie lange wird das dauern?“
„Ich werde telefonieren, sobald ich mich mit dem Rum aufgewärmt habe. Wenn die Maschine irgendwo an der Küste im Einsatz ist, wird sie relativ flott hier sein …“
„Wie flott?“
„Ein paar Tage. Wenn sie allerdings im Hinterland ist, dann dauert es länger. Und bevor du fragst – zwei Wochen und mehr“, setzte er hinzu, als Berit den Mund
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