Stachel der Erinnerung
wiederholte den Satz und erst jetzt begriff Tessa, dass er sie gar nicht verstehen konnte, denn sie sprach Deutsch – mit einem unüberhörbaren slawischen Akzent.
„Er versteht Sie nicht“, sagte sie und hatte damit die volle Aufmerksamkeit des zimmersuchenden Gastes.
Die Rehaugen verengten sich drohend. „Dann übersetz es ihm gefälligst.“
Tessa verschränkte die Arme vor der Brust und verzichtete auf ein überlegenes Lächeln. „Das ist vergebene Liebesmüh, er kann Ihnen kein Zimmer geben, der Besitzer ist irgendwo da hinten.“ Sie machte eine vage Handbewegung in Richtung Frühstücksraum.
Mit der theatralischen Grandezza einer Dragqueen warf die Frau den Kopf in den Nacken und stolzierte den Gang entlang. Ob sie dabei tatsächlich „Scheißkaff“ murmelte, konnte Tessa nicht hundertprozentig beschwören.
Hendrik legte den Hörer auf und verließ die Rezeption. „Hat sie wirklich ein Piercing in der Zunge?“
„Ja.“
„Und im Lippenbändchen?“ Ein Hauch von Faszination schlich sich in Hendriks Stimme.
„Ja. Und sieh mich nicht an, als ob ich wissen sollte, wo sie noch überall Metallringe trägt“, entgegnete sie. „Da musst du schon selber ran.“
„Nicht mal, wenn sie die letzte Frau auf der Welt wäre.“ Er schüttelte sich. „Wenn sie überhaupt eine Frau ist.“
Sie gingen den Gang hinunter und blieben beim Aufenthaltsraum stehen. Am Billardtisch lehnte Nick Dayton, einen Staubwedel in der Hand und versuchte gerade, die gepiercte Diva mit seinem grimmigen Blick in die Knie, besser gesagt, zum Verlassen seiner Herberge zu zwingen. Allerdings sah es nicht danach aus, als ob er Erfolg hätte.
Tessa kam mit Hendrik näher. Die Frau bemerkte sie. „Ihm gehört der Laden hier? Übersetz ihm, dass ich ein Zimmer brauche.“
„Er versteht Sie.“ Sie schaffte es, ein maliziöses Lächeln zu unterdrücken, als sich die grimmigen Augen auf sie richteten, und zuckte nicht einmal mit der Wimper. Schließlich war es sein Job, Gäste zu betreuen.
„Bedauere, es ist kein Zimmer frei. Sie werden sich ein anderes Hotel suchen müssen, ich rufe Ihnen selbstverständlich ein Taxi.“
„Nein. Ich muss hier bleiben“, beharrte die Frau und blickte fragend in die Runde. „Ihr seid doch die Leute, die sich um das Schiff kümmern?“
Tessa horchte auf. Mit einem Schritt war sie bei der Frau. „Woher wissen Sie das? Die Sache ist geheim. So geheim, dass nur wir hier im Raum davon wissen. Wenn Sie von der Presse sind …“
Die Frau unterbrach sie mit einer Handbewegung. „Ich bin nicht von der Presse, keine Sorge, und ich verabscheue Journalisten vermutlich mehr, als ihr es tut. Aber ich weiß von dem Schiff. Und ich weiß noch viel mehr.“ Die Stimme überschlug sich. „Das Böse ist auf die Welt zurückgekehrt.“
sieben
Sie standen um die Frau herum. Ihre letzten Worte hallten in der Stille wider, die sich über den Raum legte. Eine unbehagliche Stille, in der niemand zu atmen wagte.
„Klar“, zerriss Nick Dayton den Bann. „Das Böse ist in die Welt zurückgekehrt. Ich sehe es direkt vor mir.“ Er machte einen Schritt auf die Frau zu, die ihm nicht einmal bis zur Brust reichte. „Und ich bin bereit, es dorthin zu schicken, wo es herkam.“
Die Frau keuchte auf. Mit einer schnellen Bewegung streifte sie den Umhang von den Schultern, wirbelte ihn mit großer Geste wie ein Torero sein Tuch durch die Luft, bis er auf dem Billardtisch liegen blieb. Darunter trug sie einen Rollkragenpullover, der ihren Oberkörper umschloss wie schwarze Tinte und gleichfarbige Samthosen. Über ihren Hüften lag locker ein breiter, mit Amethysten besetzter Gürtel, die aufblitzten, als sie herumfuhr und Tessa am Handgelenk packte. „Ich bin Daria Jelnakowa. Ich bin gekommen, weil ich gespürt habe, dass etwas unvorstellbar Böses unsere Welt bedroht. Und der Ursprung ist hier.“ Sie zog Tessa, die noch immer völlig perplex war, näher und durchbohrte sie mit ihrem Blick. Ihre Stimme klang nicht länger schrill, sondern so dumpf, als spräche sie durch Watte. „Sie sagt, sie hat eurem Vater gesagt, dass du nichts hättest ändern können. Es war ihr vorherbestimmt.“
Alles Blut wich aus Tessas Gesicht, als sie die Frau anstarrte. Sie hörte die Worte und sie verstand deren Bedeutung. Aber diese Fremde konnte nicht wissen … niemand wusste davon … Sanne war lange vor Vater gestorben – sie konnte ihm nichts sagen! „Wie … wie …“, stammelte sie, doch Daria hatte sich bereits
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