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Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Henz
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abgewendet und Hendrik am Arm gepackt. Sie schloss die Augen und legte ihre freie Hand theatralisch an die Stirn, als ob sie nachdenken oder Schwingungen auffangen müsste.
    „Er wartet auf dich. Und freut sich darauf.“
    Hendriks Miene gefror. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die Frau an, die ihn schon wieder losgelassen hatte und gerade dabei war, nach Nick Daytons Arm zu greifen. Er machte einen Schritt von ihr weg und fixierte sie mit seinen seltsamen Augen.
    Einen Moment lang schien es, als würde sie ihm nachsetzen, aber dann zog sie die Brauen zusammen und drehte sich um, auf der Suche nach ihrem nächsten Opfer: Berit, die bis an die Wand zurückwich, was ihr aber nichts nützte. Darias Finger schlossen sich blitzschnell um ihr Handgelenk. „Sie freut sich, dass du noch heute an sie denkst. Sie ist immer da, wenn du sie brauchst.“
    Berit sank zitternd auf den nächsten Stuhl. Auch sie war leichenblass.
    Daria stemmte die Hände in die Hüften und blickte zufrieden von einem zum andern. „Ich hoffe, euch ist jetzt ein für alle Mal klar, dass ich weder verrückt, noch eine Schwindlerin bin. Ich bin ein Medium, und wie es aussieht, bin ich das Einzige, das zwischen euch und dem Bösen steht. Es wäre also klug, mich nicht zu verärgern.“
    Tessa versuchte diese Worte zu verarbeiten. Am Rande bekam sie mit, dass Daria auf Nick Dayton zuschlenderte und den Kopf in den Nacken legte, um ihm ins Gesicht zu sehen. „Ich möchte die King Olaf Suite und ich bin sicher, sie ist frei, Nico“, sagte sie mit seidenweicher Stimme.
    Statt des erwarteten „Scheren Sie sich zum Teufel. Von dort kommen Sie ja“ setzte sich der Pensionsinhaber zu Tessas Überraschung ohne ein weiteres Wort in Bewegung und Daria folgte ihm aus dem Zimmer. Wieder herrschte Stille. Tessa ging zu Berit und legte ihr den Arm um die Schulter. „Alles in Ordnung?“, fragte sie, und hörte selbst, wie zittrig ihre Stimme klang.
    Berit nickte langsam. „Das ist nicht wirklich passiert, oder? Wir träumen gerade. Oder wir sind alle auf einem Trip. Vielleicht hat uns Mister Freundlich etwas ins Essen gemischt.“
    Die trockenen Bemerkungen ihrer Freundin brachten Tessas Anspannung zum Verschwinden. „Oder es ist für die versteckte Kamera“, versuchte sie zu scherzen und überlegte eine weitere flapsige Bemerkung über Darias hellseherische Fähigkeiten, aber beim Gedanken an ihre Schwester Sanne erstarben ihr die Worte in der Kehle.
    Sanne war fünf Jahre älter gewesen. Sie studierte Jura und stand gerade vor der letzten Diplomprüfung, als ... als … Tessas Gehirn verweigerte den Gehorsam. Sie ließ Berit los und ging zum Fenster, an das die Tropfen so wütend hämmerten, als begehrten sie Einlass.
    Nicht zurückdenken. Niemals zurückdenken. Nur so hatte sie es geschafft, weiterzumachen. Weiterzumachen, obwohl die Verachtung und der Hass ihres Vaters sie täglich aufs Neue erschlugen. Ihr Tag für Tag klar machten, dass sie es hätte sein sollen, die in einem kalten Grab lag. Dass sie kein Recht hatte zu leben, wenn seine Lieblingstochter es nicht durfte.
    „Ich hole für Paps ein Paket vom Postamt und auf dem Rückweg nehm' ich uns einen gigantomanischen Eisbecher mit.“ Sanne hatte den Kopf zu ihr ins Zimmer gesteckt. „Himbeer, Zitrone, Banane für dich – wie immer?“
    „Ja, wie immer.“ Sie hatte ihrer Schwester zugelächelt und sich über die Unterbrechung gefreut, denn die Vorbereitungen für ihr Abi ließen ihr kaum mehr Zeit für etwas anderes. Sie hatte nicht gewusst, dass sie ihre Schwester zum letzten Mal lebend sah.
     
    Das waghalsige Überholmanöver eines PKWs hatte Sanne mitten in der Stadt am helllichten Tag das Leben gekostet. Sie schlug so unglücklich mit dem Kopf auf der Fahrbahn auf, dass sie sofort tot war.
    Dieser Vorfall hatte den gnädigen Schleier gehoben, der über dem Leben der Familie Wernhardt gelegen hatte. Den Weichzeichner entfernt. Tessas Mutter ließ in ihrem Schmerz niemanden an sich heran. Schon gar nicht ihre jüngere Tochter. Keine Argumente erreichten sie. Sie brauchte Jahre, bis sie wieder am sozialen Leben teilnahm und sie verweigerte sich jeder Hilfe von außen.
    Und ihr Vater versteckte seine Abneigung nicht länger, sondern ließ seinen Hass ungefiltert an Tessa aus. In dieser Zeit verwarf sie alle ihre Zukunftspläne und fasste den Entschluss, Skandinavistik zu studieren. Sie dachte, damit könnte sie seine Achtung wiedergewinnen. Eine Täuschung, eine von vielen. Weder sie

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