Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Henz
Vom Netzwerk:
sich, wie einfach es war. Während er sich zurückzog und wieder zustieß und sich wieder zurückzog, streifte sein Haar ihre Schläfe. Sein Hemd roch schwach nach Waschpulver. Die Muskeln unter dem weichen Flanell glichen Stahlplatten. Der raue Jeansstoff seiner Hose kratzte bei jedem Stoß über die Innenseiten ihrer Schenkel. Sein Atem ging vollkommen ruhig und gleichmäßig.
    Langsam wanderte ihr Blick die Knopfleiste entlang nach oben. Das Zwielicht, das durchs Fenster fiel, verschärfte die Konturen seines Gesichts und vertiefte jede noch so kleine Falte. In seinen Augen sah sie sich selbst. Seine Augen sahen so aus, wie sie sich fühlte: tot.
    In diesem Moment zerriss der Schleier und Tessa fand sich in der Realität wieder. Einer erschreckenden, unwillkommenen Realität. Ihre Finger krampften sich in den Stoff des Hemdes, aber bevor sie ihn von sich stoßen konnte, ließ er sie los und machte einen Schritt von ihr weg.
    Fassungslos starrte sie ihn an. Die Worte, der Schrei, alles steckte in ihrer Kehle fest. Sie rang nach Atem, verdrängte die Panik, die Scham, suchte nach einem Anker und fand keinen.
    „Es hat dir keinen Spaß gemacht.“ Eine Feststellung, keine Frage, keine Klage, nichts als eine sachliche Notiz zu einem Vorfall, mit dem er dem Tonfall nach nur peripher zu tun hatte. „Dafür bist du zu schade. Jeder ist dafür zu schade.“
    Tessa hörte ihn nicht. Sie hatte das Gefühl, die Augen würden ihr aus dem Schädel springen. Der Druck in ihrer Brust steigerte sich ins Unerträgliche. Während sie darum kämpfte, nicht zu ersticken, hatte Nick Dayton sich umgedreht und verließ das Zimmer.
    Sie fixierte die Kugeln auf dem Billardtisch und begann zu zählen. Bei fünf strömte Luft in ihre Lungen und ihre Schultern sackten nach vorne, als die Anspannung aus ihrem Körper wich. Keuchend atmete sie weiter. Sie spürte, wie der Schmerz in ihr Schienbein zurückkehrte, und drückte unbewusst die Beine zusammen.
    Ihr Blick fiel auf ihre nackten Oberschenkel und sie zerrte an ihrem Nachthemd. Wie hatte das passieren können? Wie hatte sie es zulassen können, dass ein Mann, mit dem sie keine zehn Sätze gewechselt hatte, sie auf dem Fensterbrett einer drittklassigen Absteige nahm?
    Vergewaltigung – das Wort tauchte auf und verschwand wieder. Er hatte sie nicht vergewaltigt. Er hatte sie … benutzt. Sie fragte sich nur wofür – weder schien ihn die Leidenschaft überwältigt zu haben, noch ein unbezwingbarer Trieb. Soweit sie es beurteilen konnte, hatte er sich während der ganzen schmutzigen Szene völlig unter Kontrolle gehabt.
    Sie rutschte vom Fensterbrett und zog das Nachthemd zurecht. Der Schmerz in ihrem Schienbein schlug einen Salto und sie biss sich auf die Lippen, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Als sie sich auf das Fensterbrett gesetzt hatte, war sie sicher gewesen, dass ihr Leben den ultimativen Tiefpunkt erreicht hatte. Doch auch dabei hatte sie sich geirrt. Es ging tatsächlich noch tiefer.
    Humpelnd verließ sie den Aufenthaltsraum und schlug die Richtung zur Treppe ein. Dort zog sie sich Stufe für Stufe hoch, und als sie endlich in ihrem Zimmer ankam, ließ sie sich erschöpft aufs Bett fallen. Sie vergrub den Kopf in den Kissen. Die letzte Stunde war nicht passiert. Sie hatte geträumt. Oder phantasiert. Vielleicht hatte sie Fieber. Alles war wahrscheinlicher, als ihre Freundin eng umschlungen mit dem Objekt der eigenen Begierde zu sehen und sich von einem Mann vögeln zu lassen, der Norman Bates zu einem Teddybären degradierte.
    Sie schluckte. Ihre Kehle fühlte sich an wie Sandpapier. Mühsam rappelte sie sich auf und humpelte ins Bad. Der Schmerz machte ihr erneut bewusst, dass die letzte Stunde definitiv kein Traum gewesen war.
    Ihre Zähne schlugen an den Becher, als sie zu trinken versuchte, und so verschüttete sie mehr, als sie schließlich hinunter brachte. Mit auf dem Waschbecken aufgestützten Armen betrachtete sie ihr Spiegelbild. Abgesehen davon, dass sie aussah wie durchgekaut und ausgekotzt – wie hatte dieser Mensch es wagen können, sie zu berühren? Sie zu … zu ... „Ficken.“ Sie sprach das Wort laut aus, um es loszuwerden. Stand es ihr auf der Stirn geschrieben, dass sie es nötig hatte? Sichtbar für jedermann, eine unausgesprochene Einladung, sich an ihr zu bedienen? War es schon so weit mit ihr gekommen? Hatte Hendrik sie deshalb angebaggert? Weil sie aussah, als ob sie aus lauter Verzweiflung mit jedem ins Bett stieg?
    Sie schob den Becher weg und

Weitere Kostenlose Bücher