Stachel der Erinnerung
stellte das Wasser an. Es war so kalt, dass sie kurz den Atem anhielt, als sie sich damit das Gesicht wusch. Aber auch das änderte nichts.
Wie sollte sie Berit morgen gegenübertreten? Und Hendrik? Von Mister Wunderbar ganz zu schweigen. Ausgelaugt ging sie zurück ins Schlafzimmer und zog ihre Reisetasche aus dem Schrank. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie Schlaftabletten eingepackt und jetzt war der geeignete Moment, eine davon zu nehmen. Sie stöberte eine Weile herum und musste einsehen, dass sie sich getäuscht hatte. Keine Schlaftabletten, die ihr ein paar Stunden Flucht vor der hässlichen Realität erlaubten. Also zog sie die Jalousien herunter und ging zum Bett hinüber. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lag noch immer die Maske. Abwesend griff Tessa danach. Wenn sie doch nur eine Maske hätte, um sich für die nächsten Tage dahinter zu verstecken. Sie drehte die Maske zwischen den Fingern und hob sie schließlich vor ihr Gesicht, um durch die Öffnungen der Augen zu blicken. Wer mochte sie wohl vor all den Jahrhunderten getragen haben? Man wusste wenig über die Freizeitbeschäftigung der Wikinger. Verschiedene Spielfiguren waren gefunden worden und Steinplatten mit eingeritzten Feldern, meistens als Grabbeigaben. Aber noch nie hatte man von Masken gehört.
Tessa kniff die Augen zusammen. Lichtkreise flackerten jäh auf und begannen sich spiralförmig auszubreiten. Sie wollte die Maske sinken lassen, aber das funktionierte nicht. Stattdessen bewegte sich das seltsame Ding wie von Geisterhand geführt so lange auf sie zu, bis es ihr Gesicht berührte und die funkelnden Spiralen Tessas gesamtes Universum einnahmen.
neun
Er konnte nicht schlafen, und da er es wusste, versuchte er es gar nicht erst. Stattdessen ging er in die Küche, nachdem er die Buchhaltungsarbeiten der letzten Tage in seinem Büro erledigt hatte. Der Teppichboden schluckte seine Schritte, nur die Treppenstufen knarrten unwillig wegen dieser Störung. Auf dem Weg sah er durch die Fenster nach draußen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er an die Magie der Weißen Nächte geglaubt. Heute glaubte er an nichts mehr. Und schon gar nicht an Magie.
In der Küche angekommen, klappte Nick die Tür des Geschirrspülers auf und begann, das saubere Geschirr auszuräumen. Für die verschwommenen Andeutungen dieses Mediums von eigenen Gnaden gab es sicher eine plausible Erklärung. Vielleicht hatte sie eine Krankenakte in die Hand bekommen – Datenschutz war heutzutage doch nichts weiter als ein leerer Begriff. Vielleicht gehörte sie zu denen, die sich daran aufgeilten, im Leben anderer herumzuschnüffeln. Auf jeden Fall aber brachte sie Unruhe in sein Leben. Das Auftauchen dieses Wikingerschiffs samt des zugehörigen Forschertrupps, der sich ausgerechnet bei ihm einquartieren musste, war schon Zumutung genug. Von den unverschämten Forderungen dieser Zicke namens Berit ganz zu schweigen. Und die andere … sie hatte erträglicher gewirkt, abgesehen davon, dass sie ihn ansah, als wäre er Jack the Ripper. Aber auch das war eine Täuschung gewesen, weil es ihr um nichts anderes gegangen war als all jenen Abenteurerinnen, die eine nette Urlaubserinnerung abseits von Fotos und getrockneten Wiesenblumen mitnehmen wollten. Einen schnellen Fick mit dem Platzhirsch. Trotzdem war die Situation seltsam gewesen. Anders als gewohnt. Aber was zur Hölle konnte sie sonst gewollt haben – mitten in der Nacht in einem kurzen Nachthemdchen ohne Unterwäsche. Und wenn sie nicht das gewollt hatte, warum war sie nicht aufgestanden und gegangen? Oder hatte ihm eine gescheuert?
Er knallte die Tür des Geschirrspülers wieder zu. Tessa Wernhardt, auch der Name war eine unwillkommene Erinnerung an die Vergangenheit und … er fuhr herum. Direkt hinter ihm stand Daria Jelnakowa, aber er hatte sie nicht kommen gehört. Den Bruchteil einer Sekunde starrte er sie an, dann machte er instinktiv einen Schritt von ihr weg. Einen großen Schritt. Was tat die Frau um knapp fünf Uhr morgens hier?
„Frühstück gibt’s um acht“, knurrte er abweisend. „Wollen Sie ein Glas Milch, damit Sie wieder schlafen gehen können?“
„Danke. Ich habe genug geschlafen. Ich bin immer so früh wach. Der Korridor zur Zwischenwelt ist zu dieser Zeit am zugänglichsten. Die Geisterstunde um Mitternacht ist nichts als ein Märchen.“ Sie ging gemächlich, aber unaufhaltsam auf ihn zu und er spürte die Bedrohung in jeder Pore. „Hass, so viel Hass.“ Ihre hohe
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