Stachel der Erinnerung
Stimme hallte in der leeren Küche. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte ihn mit ihren dunklen Augen. „Ich muss Menschen nicht berühren, um zu sehen und zu spüren, was mit ihnen los ist. Das ist nur für die Show.“ Sie schwieg, hielt ihn aber mit ihrem Blick weiter fest. „Ich habe selten so viel Hass in einem einzigen, lebenden Menschen gespürt. Höchstens die Toten, die, die unschuldig und unfreiwillig gehen mussten, strahlen so viel Hass aus. Warum hasst du dich nur so sehr?“
Sie attackierte ihn mit Worten und gleichzeitig schaffte er es nicht, sich aus ihrem Bann zu lösen, so sehr er es auch wollte. Er wollte weg. Er wollte sich nicht mit ihr auseinandersetzen. Mit einer Betrügerin – gut, dass ihm das noch rechtzeitig einfiel. „Verschwinden Sie, mich können Sie nicht beeindrucken.“ Seine Stimme klang fest. Sehr gut.
„Kann ich nicht?“ Sie schlenderte auf ihn zu, ihre Lippen kräuselten sich in einem spöttischen Lächeln. „Warum hast du mir dann die King Harald Suite gegeben, Nico?“
Unbewusst war er zurückgewichen, aber jetzt stieß er gegen die Arbeitsfläche neben der Spüle und musste hilflos mit ansehen, wie sie eine knappe Handbreit von ihm entfernt stehen blieb. Er konnte den eine Nuance helleren Haaransatz sehen und die Poren auf ihrer Stirn. Er roch den seltsamen Duft von Haarspray und Räucherstäbchen, der von ihr ausging. Sein Mund wurde trocken. Er wollte die Hände heben und sie wegschieben, aber seine Finger klammerten sich an die Arbeitsplatte hinter ihm. Sie wusste, warum er ihr die Suite gegeben hatte. Schließlich hatte sie sein Gesicht gesehen, als sie ihn Nico genannt hatte.
„Willst du mit ihr sprechen?“ Ihre Stimme klang ausdruckslos und er starrte sie an. Was, wenn es möglich sein sollte? Wenn sie nicht bluffte? Wenn er tatsächlich … Er riss sich zusammen. „Mit wem sollte ich schon sprechen wollen?“, fragte er ebenso ausdruckslos und hörte dennoch die Provokation hinter seinen Worten. Er hatte nach ihrem Köder geschnappt.
Die dunklen Augen durchbohrten ihn, sahen in ihn hinein, als wäre er aus Glas. „Astrid“, sagte sie dann langsam, ohne ihren Blick von ihm zu nehmen.
Er atmete geräuschvoll ein. Versuchte die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Sie hatte bestimmt eine Akte gefunden. In den Krankenhäusern von Oslo herumgeschnüffelt und irgendetwas gefunden … Aufzeichnungen … Befunde … irgendetwas … irgendetwas …
„Nico.“ Er kannte die Stimme, diese leise sanfte Stimme. Mein Gott, wie gut er sie kannte. Und wie lange er sie nicht mehr gehört hatte.
Aber es konnte nicht sein. Das hier war keine Episode aus Akte X oder der Twilight Zone. Das hier war die Wirklichkeit. Die unbarmherzige, wirkliche Wirklichkeit, in der er seit acht Jahren lebte. Oder zumindest vorgab, es zu tun.
Er versuchte, sich zu beruhigen. Dieses Weib inszenierte eine Show – sie hatte es selbst zugegeben. Eine Show, nichts weiter. Wie David Copperfield und Co.
„Nico! Hör auf, nach Erklärungen zu suchen. Es gibt keine.“ Die sanfte Stimme sprach weiter und sie sprach Norwegisch.
Er blinzelte. Zwischen ihm und dem Medium phosphoreszierten die Umrisse einer Gestalt. Ohne es zu wollen, formten seine Lippen einen Namen. „Astrid.“
„Ja, Nico, ich bin es. Und ich bin froh, dass es endlich eine Möglichkeit gibt, mit dir zu sprechen.“
„Froh?“, wiederholte er tumb und ohne zu begreifen. Noch immer war er nicht bereit, sich der Tatsache zu stellen, mit seiner vor acht Jahren verstorbenen Frau zu sprechen.
„Du bestrafst dich. Ohne Sinn und ohne Zweck. Nichts kann ungeschehen machen, was passiert ist.“
Damit riss sie ihn aus seiner Betäubung. „Ich weiß. Wenn ich irgendetwas mit hundertprozentiger Sicherheit weiß, dann ist es die Tatsache, dass ich nichts rückgängig machen kann.“ Er streckte die Hand aus, aber die Konturen ließen sich nicht greifen.
„Du hättest auch damals nichts ändern können, meine Zeit war zu Ende.“
Er konzentrierte sich auf ihre Worte und schob den Gedanken an die Unmöglichkeit der Situation beiseite. Wenn er schon Gelegenheit bekam, mit Astrid zu reden, dann wollte er auf all die Fragen eine Antwort, die ihn seit Jahren quälten. „Hast du es gewusst? Hast du gewusst, dass du sterben wirst ... wolltest du deshalb …“ Er brach ab. Die Erinnerung, die ihn ohnehin nie aus ihren Klauen ließ, stand plötzlich dreidimensional und überlebensgroß im Raum.
„Ich habe gewusst, dass
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