Stachel der Erinnerung
sich um.
An der Treppe blieb sie stehen. Sie konnte nicht auf ihr Zimmer zurück. Der Raum war in diesem Moment zu klein, zu eng für sie und die schwarzen Wolken, die sie umgaben. Unbewusst schlang sie die Arme um sich und ging weiter. Der Schmerz in ihrem Bein existierte nicht mehr, da sich ihr ganzer Körper wie betäubt anfühlte.
An der Schwelle zum Aufenthaltsraum blieb sie stehen. Auf dem Tisch bei einem der Fenster lagen noch immer die Ketten. Relikte aus einem anderen Leben. Sie trat näher, streifte achtlos mit den Fingern darüber und ging zu dem zweiten Fenster. Der Blick über die Terrasse zum Waldrand wirkte durch das Licht der Mitternachtssonne wie eine Szene aus einem Schwarz-Weiß-Film. Langsam ließ sie sich auf das breite Fensterbrett sinken. So war ihr Leben. Schwarz-weiß. Während alle anderen in Farbe lebten. Sie weinte nicht. Sie weinte schon lange nicht mehr. Ihre Stirn berührte das kühle Glas und sie unterdrückte den Impuls, mit ihrer Faust die Scheibe zu zertrümmern. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, regelmäßig zu atmen.
Was hatte sie falsch gemacht? Die Stimme ihrer Therapeutin klang ihr in den Ohren. „Hören Sie auf zu klammern, Tessa. Sie jagen die Männer in die Flucht durch das dauernde Gerede von Hochzeit und Haus und Kindern. Gehen Sie es langsam an. Warten Sie mit Geständnissen von ewiger Liebe. Mit Forderungen nach ewiger Treue. Und trennen Sie sich von dem Gedanken, dass es einen Mann gibt, mit dem Sie die nächsten 50 Jahre verbringen. Das ist nicht zeitgemäß. Jeder Lebensabschnitt stellt uns vor neue Aufgaben, diese mit einem einzigen Partner lösen zu wollen, ist Utopie.“
Genau. Blöderweise hatte sie schon immer eine Schwäche für Science Fiction gehabt. Und dieses Mal hatte sie nichts falsch gemacht. Sie hatte nicht geklammert, sich nicht geziert, mit ihm ins Bett zu springen und ihn auch sonst nicht bedrängt. Alles hatte so gut ausgesehen. Verdammt. Warum musste Berit recht haben und Hendrik war tatsächlich nichts als ein Aufreißer? Warum musste Berit ihr höchstpersönlich beweisen, wie recht sie hatte? Warum konnte ihr nicht ein Mal ein normaler Mann über den Weg laufen?
Sie lehnte sich an die Nische des Fensters. Alles in ihr war leer. Blicklos starrte sie hinaus in die unwirkliche, helle Nacht. Sie hatte keine Kraft mehr. Mattigkeit umhüllte sie wie ein flauschiger Wattebausch und ließ die Realität immer stärker verschwimmen. Sie verließ ihren Körper, verschmolz mit dem Dämmerlicht im Raum zu einem substanzlosen Wesen, nicht länger verwundbar, nicht länger fähig, Schmerz zu fühlen.
„Schau an, das Mädchen mit den hungrigen Augen.“
Mechanisch drehte Tessa den Kopf. Nick Dayton stand vor ihr. Sie blickte ihn gleichgültig an, ohne den Inhalt seiner Worte zu verstehen.
„Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es mich überrascht.“
Noch immer rauschten seine Worte an ihr vorbei. Mit seltsamer Distanz sah sie zu, wie sich seine Hand auf ihr nacktes Knie legte. Er machte noch einen Schritt näher und stand damit zwischen ihren Beinen. Seine großen Hände strichen über ihre Oberschenkel, die Daumen wanderten über die zarten Innenseiten.
Er hat warme Hände, dachte sie abwesend und ließ widerstandslos zu, dass er ihre Beine auseinander drückte und das dünne Nachthemd immer weiter nach oben schob.
Er stand so knapp vor ihr, dass sie die Zierkerben in den Knöpfen seines Hemdes zählen konnte. Noch bevor sie damit fertig war, nahm er seine Hände weg und griff in seine Hosentasche, um ein kleines viereckiges Folienpäckchen herauszuholen. Sie folgte seinen Bewegungen mit den Augen, beobachtete interessiert, wie er die Folie routiniert mit den Zähnen aufriss. Ganz bestimmt machte er das nicht zum ersten Mal. Noch immer fehlte ihr die Verbindung zwischen dem, was sie sah und jenem Zentrum ihres Gehirns, das diese Information verarbeiten sollte.
Das unmissverständliche Geräusch eines nach unten gezogenen Reißverschlusses zerstörte die Stille, aber nicht die Trance, in der sich Tessa befand. Sie sah zu, wie er das Kondom überstreifte und bewunderte im Stillen die Akkuratesse seiner Handgriffe.
Dann nahm er ihre Hüften und zog sie ein Stück nach vorne, so weit, dass sie nach seinen Oberarmen greifen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie stand noch immer neben sich und beobachtete die Szene mit teilnahmsloser Neugier.
Er glitt in sie, mit einer einzigen, mühelosen Bewegung. Sie wunderte
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