Stachel der Erinnerung
ich sterben werde, aber nicht, dass es in dieser Nacht sein würde.“ Sie machte eine Pause. „Ich wollte einfach nicht, dass du gehst, weil ich gespürt habe, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt. Und ich jede Sekunde meines Lebens mit dir verbringen wollte.“
Und er war trotzdem gegangen. Obwohl sie ihn gebeten hatte, zu bleiben, eindringlich und inständig gebeten nicht zu gehen, war er nach Oslo geflogen. „Der Kongress dauert nur drei Tage. Ich bin schneller wieder zurück, als dir lieb ist.“ Er hörte seine Worte, seine jämmerliche Beschwichtigung, wie ein Endlostonband liefen sie immer wieder in seinem Kopf ab. Seit acht Jahren.
„Ich wäre auch gestorben, wenn du geblieben wärst.“
Seine Kehle wurde eng. „Aber du wärst nicht alleine gewesen. Du hättest nicht … alleine sterben müssen.“ Wieder sah er sie auf dem Bett liegen. Die Augen weit geöffnet, die Hände ausgestreckt, mit den Handflächen nach oben. Der Arzt hatte festgestellt, dass sie bereits seit mehr als zwölf Stunden tot war.
„Ja“, sagte sie ruhig, „das ist richtig. Und das kann ich dir auch nicht abnehmen, denn natürlich wäre ich gerne in deinen Armen gestorben. Dein Gesicht eingebrannt auf meiner Netzhaut für die Ewigkeit. Damit musst du alleine fertig werden, es war deine Entscheidung, zu fliegen. Aber alles andere kann ich dir abnehmen.“
„Alles andere?“ Seine Stimme brach.
„Ja, alles andere, was du seit acht Jahren mit dir herumschleppst. Du lebst mein Leben. Du lebst meine Träume und meine Pläne. Eine sehr subtile Art der Selbstbestrafung, aber es ist längst genug. Hör auf damit. Geh zurück. Bjöhrendal war mein Traum, aber trotzdem hatten wir nie die Absicht, für immer hierzubleiben. Wir wollten die Pension vier, fünf Monate im Sommer betreiben und den Rest der Zeit in Manchester verbringen. Daran erinnerst du dich, ich weiß es. Lass es gut sein. Kümmere dich um dein Leben.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich habe kein Leben mehr ohne dich. Ich habe kein Recht darauf, zu leben.“
„Doch, das hast du. Wir hatten eine schöne Zeit. Wir waren sechs Jahre zusammen …“
„Zu wenig, viel zu wenig“, unterbrach er sie heiser.
„Darum geht es nicht, Nico. Du musst mich loslassen, hörst du? Du darfst dich nicht an eine Tote klammern.“
„Darf ich nicht?“ Bitterer Zynismus tropfte aus seinen Worten.
„Nein. Lass mich gehen. Gib mir Frieden. Mein Schicksal hat sich erfüllt. Nur wenige Menschen hatten ein derart glückliches Leben wie ich. Ich hatte eine wunderschöne Kindheit, voller Geborgenheit und Verständnis. Eltern, die immer für mich da waren, ohne mich zu bevormunden. Die an mich glaubten und mich immer unterstützten. Ich hatte einen Mann, der mich so sehr liebte, dass er mir seine Niere schenkte, um mich von der Dialyse zu befreien. Der mir jeden Wunsch von den Augen ablas, sogar wenn es so etwas Verrücktes war, wie eine Hotelpension auf einer Insel im Eismeer. Was glaubst du, wie viele 90jährige von sich behaupten können, ein derart erfülltes Leben gehabt zu haben? Mein Leben hatte Qualität in einem Ausmaß, dass ich auf Quantität gerne verzichtete. Mein Leben war ein voller Becher, in den kein Tropfen mehr hineingepasst hätte. Ich bin glücklich gestorben und dankbar für das Leben, das ich hatte.“
Er konnte nicht glauben, was er da hörte. „Astrid, wie kannst du das sagen? Du warst fünfundzwanzig Jahre, als du gestorben bist. Wie kannst du sagen, dass du dein Leben bis zur Neige ausgekostet hast? Dein Leben hatte noch nicht einmal richtig angefangen!“
„Hast du mir denn überhaupt nicht zugehört? Ich habe in diesen fünfundzwanzig Jahren mehr Glück erlebt als andere in achtzig Jahren. Versteh das doch. Lass mich gehen und hör auf, dich zu hassen. Dich und alle, mit denen zu tun hast.“
„Wie soll ich aufhören, die Menschen zu hassen, die leben, während du tot bist? Wie soll ich aufhören, mich zu hassen? Dafür, dass ich nicht für dich da war, als du mich gebraucht hast?“ Tränen liefen über sein Gesicht, aber er achtete nicht darauf. Seine Hand öffnete und schloss sich hilflos. Wut vernebelte seinen Blick. Unbezähmbare, zerstörerische Wut.
„Ach, Nico.“
Er fühlte eine sanfte Berührung, nicht auf seiner Haut, sondern tief in seinem Herzen. Dort, wo der Stachel saß, der ihn Tag und Nacht quälte, wenn er nur an Astrids Namen dachte. Alle, die sagten, dass die Zeit Schmerz verblassen lässt, hatten Unrecht. Sein Schmerz war gewachsen
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