Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Henz
Vom Netzwerk:
machen?“
    Tessa befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge. Alva – damit musste wohl sie gemeint sein. Hastig griff sie nach dem Korb mit den Holzstücken. Er war schwerer, als sie erwartete hatte und sie musste mit der zweiten Hand nachfassen. Was sollte sie fragen? Womit sollte sie anfangen? „Ich komme schon“, murmelte sie halblaut und schleppte das Holz ins Innere des Hauses.
    Die Frau folgte ihr und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Tessas Nackenhaare sträubten sich einzeln. Die Missgunst, die ihr entgegenschlug, war so undurchdringlich wie eine Stahlwand. Während sie die Holzstücke aus dem Korb nahm, versuchte sie sich alle Einzelheiten des Sozialgefüges innerhalb einer Wikingersiedlung ins Gedächtnis zu rufen.
    Im Grund eine einfache Sache. Schließlich gab es nur drei Abstufungen in der Hierarchie: die schmale Schicht des Adels, auch Bondi genannt, also Stammesfürsten und Könige, die breite Masse der Freien und schließlich die Sklaven. Sklaven besaßen keine Rechte. Sie waren Besitz, nichts weiter. In den Gräbern wohlhabender Häuptlinge hatte man neben Grabbeigaben in Form von Truhen, Möbeln, Schmuck und Werkzeugen auch Skelette gefunden, deren Haltung den Schluss nahe legte, dass sie Sklaven waren, die ihren Herrn auch im Jenseits zu dienen hatten. Auch die wenigen schriftlichen Überlieferungen, aus der Zeit bevor das Christentum, die Begräbnisrituale der Wikinger beeinflusst hatte, sprachen von derartigen Gepflogenheiten.
    „Nicht ins Feuer legen“, herrschte die Frau Tessa an und riss sie aus ihren Gedanken. „Das Holz ist feucht und erstickt die Glut. Hast du denn nichts als Stroh im Kopf? Wie oft habe ich dir das schon gesagt?“ Sie bückte sich und legte die dicken Holzstücke an den Rand der Feuerstelle. „Es muss zuerst trocknen.“
    Man brauchte kein Hellseher zu sein, um Alvas Stellung in diesem Haushalt zu erraten. Sie war eine Sklavin, und wie die Dinge lagen, keine sehr geschätzte.
    Während sie damit fortfuhr, die Holzstücke rund um die gemauerte Feuerstelle aufzuschichten, blickte sie sich um. Auf den an den Wänden entlanglaufenden mit Holzbrettern verstärkten Erdwällen lagen schlafende Menschen. Auch auf dem Fußboden hatten sich einige zusammengerollt. Schnarchgeräusche in zahlreichen Varianten waren hörbar. Tessa schätzte, dass sich an die zwanzig Personen im Raum befanden. Vermutlich Männer und Frauen, aber da außer den Köpfen mit wirren Haarsträhnen oder dicken Zöpfen unter den Wolldecken nichts auszunehmen war, konnte der Eindruck auch täuschen. Wenn sich die Männer gerade mit den Schiffen auf Beutezug befanden, hüteten die Frauen alleine Haus und Hof. Sie waren in vielen Beziehungen den Männern gleichgestellt, da sie in deren – oft monatelangen Abwesenheit die Verantwortung für den Besitz und die Nachkommenschaft trugen.
    Das Haus erschien ihr groß und reichlich ausgestattet. Tessa entdeckte Hocker, Truhen und Regale, auf denen Geschirr stand. An den Wänden hingen Behänge und in einer Ecke stand ein Webstuhl. Das ließ auf einen sehr wohlhabenden Haushalt schließen. Der Stand der Freien erstreckte sich von armen Bauern bis zu vermögenden Gefolgsleuten des Königs, mit allen dazwischen existierenden Abstufungen. Sie alle verband die Selbstbestimmung, die den Sklaven fehlte.
    Vom Leben und von den Häusern der Wikinger war wesentlich weniger bekannt, als von vielen anderen Kulturen. Das bevorzugt verwendete Material war Holz. Holz hielt dem Zahn der Zeit jedoch nicht stand, und verrottete ebenso schnell wie spurlos. Zusätzlich überlieferten die Wikinger ihre Traditionen, ihre Mythen, von Mund zu Mund, nicht schriftlich. Und natürlich schmückten die Erzähler ihnen wichtig erscheinende Dinge aus und ließen ihnen unbedeutend Erscheinendes beiseite. Erst im 12. Jahrhundert begannen die Skalden diese alten, von Generation zu Generation überlieferten Erzählungen niederzuschreiben. Diese Sagas zählten zu den Hauptquellen der Historiker, um sich ein Bild der Wikingerkultur zu machen.
    Und sie stand, besser gesagt kniete, jetzt mitten in einem richtigen Wikingerhaus – Berit hätte für diese Möglichkeit gemordet. Berit – großer Gott, ob sie sich jemals wieder sehen würden? Oder war sie für den Rest ihrer Tage hier festgenagelt?
    Rings um sie herum begannen sich die Schlafenden nach und nach aufzurappeln. Es waren mehr Frauen als Männer, auch einige Kinder befanden sich darunter. Der Reihe nach verließen sie das Haus, um sich zu

Weitere Kostenlose Bücher