Stachel der Erinnerung
und füllte mittlerweile jede Zelle seines Körpers aus. Die Berührung machte den Schmerz erträglich und seine Wut ließ nach, war aber noch immer da.
„Denk über meine Worte nach. Du wirst sie verstehen, wenn du dich nicht vor ihrem Sinn verschließt. Dann wirst du Ruhe finden, glaub mir.“
Er schüttelte den Kopf. „Niemals, ich werde dich niemals vergessen.“
„Du sollst mich auch nicht vergessen. Aber du sollst dich an uns erinnern, wie wir waren. Jung, glücklich und unbeschwert. Du sollst nicht immer meinen toten, seelenlosen Körper sehen, wenn du dich an mich erinnerst. Das bin ich nicht, das war nichts als eine leere Hülle.“
„Ich wünschte …“, er schluckte, als er seinen tiefsten, geheimsten Gedanken laut aussprach, „ich wünschte, ich hätte die Kraft …“
„Nein“, unterbrach sie ihn scharf. „Dein Schicksal hat sich noch lange nicht erfüllt. Wenn du deinem Leben trotzdem gewaltsam ein Ende setzt, dann sind wir nicht vereint. So einfach lässt sich das Jenseits nicht austricksen.“
Sie nahm ihm die letzte Hoffnung, die er in sich getragen hatte. Im Stillen war er überzeugt gewesen, irgendwann seine eigene Feigheit zu überwinden und die Stärke zu finden, sich zu töten, um mit ihr vereint zu sein. Aber ihren Worten nach erwies sich auch dieser Plan als Hirngespinst.
Er schluchzte und fühlte sich erbärmlich dabei. Wie jämmerlich konnte er sich noch verhalten? Trotzdem gelang es ihm nicht, die nächste Frage zu unterdrücken. Zu groß war seine Sehnsucht nach einem Strohhalm, der ihm Halt geben konnte. „Siehst du mich, von dort, wo du bist? Bist du bei mir?“
Doch auch diesen Trost verwehrte sie ihm. „Nein, das ist nichts als ein frommes Märchen. Die Toten leben nicht in der Welt der Lebenden. Sie haben ein eigenes Reich. Aber ich kann dort nicht zufrieden sein, weil du immer noch an mir zerrst. Ich kann nicht in meiner neuen Existenz aufgehen. Meine Seele leidet.“
Diese Worte trafen ihn wie ein Schlag in den Magen. „Du leidest?“, stammelte er ungläubig. „Wegen mir?“
„Ja, Nico.“
„Das … das wollte ich nicht. Ich dachte, wenn ich an dich denke … wenn …“ Seine Worte versickerten.
„Du kannst mich nicht in deiner Welt halten. Es ist vorbei. Lass mich gehen, Nico.“
Verzweifelt fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. „Ich lasse dich gehen, Astrid. Ich verspreche, nicht länger … nicht länger … nicht länger …“ Sein Herz brach, er spürte es. Seine Beine gaben nach und er sank in die Knie. „Ich lass dich gehen.“ Dann verließ ihn die letzte Kraft und er kippte zur Seite. Mit angezogenen Beinen lag er wie ein Fötus auf dem kalten Boden. Sein Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Noch über den Tod hinaus hatte er alles falsch gemacht. Was für ein erbärmlicher Versager war er doch. Er hatte Astrid sogar im Jenseits gequält mit seinem egoistischen Verhalten. Mit seinem Selbstmitleid. Er musste damit aufhören. Er hatte es versprochen.
„Ja, du hast es versprochen und du tätest gut daran, es nicht zu vergessen.“ Die schrille Stimme zeriss den Bann. Er schlug die Augen auf und sah schwarze Schnürstiefel mit dicker Profilsohle direkt vor sich. Langsam richtete er sich auf, bis er auf dem Boden saß wie ein lädierter Spielzeugteddy.
„Du brauchst mir nicht zu danken“, ertönte es von oben und er beschloss aufzustehen, ehe ihm das Trommelfell platzte. Vorsichtig, als traue er seinen Beinen nicht, das Gewicht auch tatsächlich zu tragen, zog er sich an einem der Küchenschränke hoch und blieb mit dem Rücken zu der Frau stehen. Seine Hände umklammerten die Kanten der Arbeitsplatten. Nachdem er einige Sekunden auf diese Weise Kraft geschöpft hatte, drehte er sich um.
Daria Jelnakowa stand ihm gegenüber, die Arme noch immer vor der Brust verschränkt und betrachtete ihn mit leicht schief gelegtem Kopf.
Er kämpfte darum, unbeteiligt zu erscheinen, aber nachdem er sich vor ihr gerade nackt bis auf die Seele gemacht hatte, konnte dieses Unterfangen nicht gelingen und er gab schließlich auf.
„Sind Sie deshalb gekommen?“, fragte er müde. „Weil Astrid mit mir sprechen wollte?“
Dankenswerterweise senkte sie ihre Stimme auf eine erträgliche Lautstärke. „Nein. Bei allem Mitgefühl, mein lieber Nick, dein Schicksal ist weder außergewöhnlich noch irgendwie sonst bemerkenswert. Menschen sterben, das ist der Lauf der Dinge, das kann niemand ändern. Ebenso, wie sich manche nicht mit Tatsachen
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