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Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Henz
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ihnen herum, aber Tessa merkte auch, dass es eine Grenze gab, die dabei nicht überschritten wurde. Auf sie selbst achtete niemand, und das gab ihr Gelegenheit, alles zu beobachten. Wenn sie sich konzentrierte, fielen ihr die Namen der Anwesenden ein und manchmal auch etwas von deren Lebensgeschichte. Sie ließ die Dinge einfach auf sich wirken und wartete mit einer gewissen Spannung, was weiter passieren würde.
    „Meldis, welche Freude dich zu sehen.“ Ein Mann drängte sich durch die Schar der Bewunderer. Er war älter als die anderen, bestimmt über zwanzig, und er schien Tessa auf seltsame Weise vertraut, obwohl sie ihn mit Sicherheit noch nie gesehen hatte. Er hieß Serre und er war der älteste Sohn von Erik Ulfsson, dem der Nachbarhof von Arne gehörte. Seit einigen Wintern lebte er jedoch in der Jarlsfeste und gehörte zum direkten Gefolge des Jarl. Wie den meisten Männern hier fiel ihm das dichte blonde Haar in Locken auf die Schultern, allerdings trug er im Vergleich zu den wild wuchernden Gestrüppen der anderen einen kurz gestutzten Vollbart. Von seiner rechten Schläfe hingen drei dünne Zöpfchen, an deren Enden Bernsteinperlen befestigt waren. „Und jedes Mal, wenn ich dich sehe, wirst du schöner.“ Er lächelte und zeigte dabei starke weiße Zähne.
    Meldis warf den Kopf in den Nacken. „Serre, ich glaube, dein Vater sucht dich.“ Ihre Stimme klang kühl und abweisend.
    „Ach, der kann warten. Ich habe gehofft, dass du kommst und wir etwas Zeit füreinander haben.“ Er betrachtete sie mit einem Blick, der Tessa nicht im Unklaren ließ, dass er diese Zeit nicht mit Gesprächen über die Aussaat von Gerste verschwenden würde.
    Meldis sah ihn nur böse an, also sagte sie im Bestreben, ihr zu Hilfe zu kommen. „Meldis hat noch zahlreiche Verpflichtungen, ihre Zeit ist beschränkt.“
    Sie hörte beinahe, wie Meldis die Luft anhielt. Serres kühle blaue Augen richteten sich auf sie. „Sprichst du jetzt schon für deine Herrin, Alva? Deine Aufgaben scheinen ja ohne Zahl zu sein.“
    Tessa spürte, wie sie rot wurde. Verdammt, sogar in dieser Zeit wurde sie rot! Das war doch nicht zu fassen!
    Sie räusperte sich, aber ehe sie etwas erwidern konnte, sagte Meldis ruhig. „Der Jarl ist der Oheim meiner Mutter. Ich werde heute Verpflichtungen haben, Serre, das weißt du und das weiß auch Alva. Aber es sind so viele Mädchen hier, ich bin sicher, dass sich eines davon von dir die Zeit vertreiben lässt.“
    Jetzt war es Tessa, die den Atem anhielt. Eine derartige Abfuhr vor Zeugen musste einem Mann aus dieser Zeit recht hart ankommen. Nicht nur dieser Zeit, sondern jeder Zeit.
    Fast erwartete sie einen Zornesausbruch, aber der Mann lächelte sie unbekümmert an und antwortete ruhig. „So sei es, Meldis. Aber wer weiß, vielleicht findest du irgendwann in diesen Tagen doch ein freies Stündchen für mich.“ Mit diesen Worten entfernte er sich.
    Meldis tauschte einen schnellen Blick mit Tessa und wandte sich dann wieder an die sie umringenden Männer, um mit ihnen ein belangloses Gespräch aufzunehmen.
    Nach und nach begab man sich zu Tisch, Meldis blieb bei ihrer Familie und Tessa blieb bei Meldis. Sie saß mit den anderen Sklaven am Ende des Tisches. Man stellte ihnen Schüsseln mit Brei und Fladenbroten hin, von dem reichlich aufgetischten Wildschwein und dem Met bekamen sie nichts.
    Der Einzug von Ole Tanstrøm, dem hiesigen Jarl, und seines Gastes wurde mit Trommelschlägen und wilden Pfeifenklängen angekündigt. Gemeinsam mit seiner Frau bezog er den Platz auf dem Podium und rückte dem Landaujarl, der mit zwei seiner Gefolgsmänner neben ihm stand, eigenhändig den Sessel zurecht. Sofort wurden versilberte Trinkhörner aufgetragen, und mit schäumendem Bier gefüllt.
    „Auf den Landaujarl, unseren Freund und Verbündeten im Süden. Mögen wir gemeinsam Ruhm und Ehre erkämpfen. Zu Thors Gefallen und dem Gefallen unseres guten Königs Harald.“ Der Tanstrømjarl prostete seinem Gast zu und die Menge applaudierte begeistert.
    „Ruhm und Ehre für Thor und König Harald“, brüllten die Männer zurück.
    Tessa, die für Betrunkene noch nie etwas übrig gehabt hatte, begann sich langsam, aber sicher unwohl zu fühlen. Vage erinnerte sie sich an Beschreibungen von Wikinger-Orgien, in denen weibliche Sklavinnen fester Bestandteil des Unterhaltungsprogramms gewesen waren. Und das nicht immer freiwillig. Zwar befanden sich unter den Anwesenden auch zahlreiche Frauen und Kinder, aber wer wusste

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