Stachel der Erinnerung
kämpfte dagegen an, sich zu übergeben. Möglicherweise glitt ihr das Leben aus den Händen, aber sie würde nicht zulassen, dass die Panik sie überwältigte. Hier. In finsterer Nacht. Am Ende der Welt. Tausend Jahre, ehe sie geboren wurde.
Sie fing an zu zählen, um ihren Verstand zu beschäftigen. Von hundert rückwärts in Dreierschritten. Als sie bei zweiundzwanzig angekommen war, hatte sie sich soweit beruhigt, dass sie ihre Finger aus dem feuchten Boden ziehen konnte. Bei vier ging ihr Atem normal und bei eins rollte sie sich auf den Rücken.
Unzählige Sterne funkelten durch die Konturen der Baumwipfel von einem samtblauen Himmel. Ein unglaublich romantischer Anblick – allerdings war Romantik das Letzte, wonach ihr jetzt der Sinn stand.
Sie stützte sich auf die Ellbogen und sah sich um. Natürlich war nichts zu erkennen. „Meldis?“, rief sie laut und dann ein zweites Mal, allerdings ohne eine Antwort zu bekommen. Aus einem Geistesblitz heraus versuchte sie es mit „Berit“ und „Hendrik“ – aber das Ergebnis blieb dasselbe.
In einer Art Fatalismus verschränkte sie die Arme unter dem Kopf und legte sich wieder hin. Was sollte sie auch sonst tun? Sie sah nichts und sie hatte keine Waffe. Wer oder was immer sie töten wollte – sei es aus Hunger, sei es aus Habgier – für den war sie eine leichte Beute.
Als die Sonne aufging, lebte sie zur ihrer Überraschung noch immer und trug die Kleidung, mit der sie Arnes Haus verlassen hatte, sowie lange, geflochtene Zöpfe – sie musste sich also noch immer in der Vergangenheit befinden. Ihre Glieder knackten bei jeder Bewegung, aber sie funktionierten mehr oder weniger klaglos. Gähnend streckte sie sich und sah sich um. Bäume, nichts als Bäume und Büsche. Von Meldis keine Spur, weder lebend noch tot, noch verletzt. Mit etwas gutem Willen war zwischen den dicken Stämmen ein ausgetretener Pfad zu erkennen. Mangels anderer Ideen folgte Tessa ihm und erreichte einen kleinen Wasserfall. Sie trank aus ihren gewölbten Händen und wusch sich das Gesicht, obwohl das Wasser eiskalt war. Dann setzte sie sich auf einen großen Stein. Was sollte sie tun? Wo war Meldis? Was war passiert? Warum übersprang sie immer wieder ein paar Tage?
Fragen hatte sie genug, aber keine Antworten. Genauso wenig wie jemanden, dem sie diese Fragen stellen konnte. Also blieb ihr nichts, als sich auf das vordringlichste Problem zu konzentrieren – was sollte sie tun? Versuchen aus dem Wald zu gelangen in der Hoffnung, einen Weg in die nächste Ortschaft zu finden? Aber sie konnte doch Meldis nicht so einfach im Stich lassen. Vielleicht suchte sie längst nach ihr. Vielleicht lag sie verletzt und schutzlos in diesem Wald und hatte Alva losgeschickt, um Hilfe zu holen. Wenn sie sich nur erinnern könnte, wenn sie nur …
Sie spürte die Gegenwart eines anderen Menschen und drehte sich um. Was sie sah, nahm ihr den Atem. Scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht, saß ein Reiter auf einem riesigen schwarzen Pferd. Sein ebenfalls schwarzes Haar floss glatt auf seine breiten Schultern. Der Oberkörper wurde von einer ärmellosen Lederweste bedeckt, deren klaffender Spalt viel von seiner bronzefarbenen Haut sehen ließ. Durch das Geäst fächerten sich die Sonnenstrahlen in dünne Segmente auf und umschlossen seine Gestalt wie reine Energie. Er stand vollkommen still, das Pferd ebenso. Unmöglich zu sagen, ob er als Freund oder Feind kam. Tessa stand langsam auf und blickte ihm entgegen. Was immer er vorhatte, sie konnte nur abwarten.
Schwerfällig setzte sich das riesige Pferd in Bewegung und kam auf sie zu. Zuerst sah sie die abgewetzten Stiefel, über ihnen einen von schwarzem Leder eng umschlossenen, muskulösen Oberschenkel. Im Gürtel des Reiters steckte ein Dolch. Ihr Blick wanderte weiter bis zu seinem Gesicht. Er trug einen kurzen Sarazenenbart, der an seinem Unterkiefer entlang lief und die Lippen einrahmte. Nach all den durch und durch nordischen Männern, die sie in den letzten Tagen gesehen hatte, wirkte er unglaublich exotisch und fremdartig. Die Augen, mit denen er auf sie hinunter sah, schimmerten wie Obsidian. Wie undurchdringlicher Obsidian.
Eine Weile lang starrten sie sich schweigend an. Dann streckte ihr der Mann eine Hand entgegen.
Sie blickte darauf. Lange, kräftige Finger mit schmutzumrandeten Nägeln verrieten, dass er mit diesen Händen arbeitete, und zwar hart. Er wollte, dass sie aufstieg, aber wo würde er sie wohl hinbringen? Die wortlose
Weitere Kostenlose Bücher