Stachel der Erinnerung
Aufforderung, eine Geste, die ohne Weiteres auch als Befehl durchgehen könnte, gefiel ihr nicht. Aber welche Alternative hatte sie schon?
Trotzdem, wortlos in ihr Verderben zu laufen – in diesem Fall mit einem Pferd gebracht zu werden – behagte ihr nicht. Also sagte sie laut: „Ich bin Alva. Ich will nach Forsanger.“
Er antwortete nicht, sondern hielt ihr weiter den Arm entgegen.
„Forsanger“, wiederholte sie lauter und stützte die Hände in die Hüften, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.
Er schüttelte den Kopf und Tessa machte einen Schritt von ihm weg. „Nicht nach Forsanger? Dann bleibe ich hier. Ich muss nach Forsanger.“ Das war zwar nicht die Wahrheit, aber wenn sie aus ihm nicht herausholen konnte, wo er sie hinbringen würde, dann blieb sie eben hier stehen.
Er verzog keine Miene, sondern dirigierte das Pferd mit einem Schenkeldruck näher an sie heran. „Meldis“, sagte er mit einer Stimme, die so rau klang, als würde er sie nicht oft benützen.
„Meldis?“ Tessa starrte ihn mit offenem Mund an. „Du bringst mich zu Meldis?“
Er nickte und sie packte seinen Arm. Die Kraft, mit der er sie zu sich auf das Pferd zog, vermittelte ihr das Gefühl, so leicht wie eine Feder zu sein. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, saß sie vor ihm auf dem Pferd. Das Kleid rutschte ihr bis über die Knie hoch und sie hörte ein Geräusch, das verdächtig nach reißendem Stoff klang. Aber bevor sie sich weiter darum kümmern konnte, setzte sich das Pferd in Gang und sie wurde gegen den harten Körper hinter sich gedrückt.
Ihr Blick fiel auf die Hände, die die Zügel hielten, auf den Bogenschutz am rechten Handgelenk und die bronzefarbene Haut auf seinen Unterarmen, durch die sich Muskeln und Sehnen deutlich abzeichneten. Zu spät fiel ihr ein, dass sie möglicherweise auf einen der ältesten Tricks der Welt hereingefallen war. Ein Wort, das richtige Wort, und sie hatte sich ohne nachzudenken einem wildfremden, nicht gerade vertrauenswürdig erscheinenden Reitersmann ausgeliefert.
„Wo ist Meldis?“, fragte sie deshalb, viel zu spät natürlich. „Wohin bringst du mich?“ Vielleicht gehörte er zu einer orientalischen Räuberbande. Marodierende Söldner, die hatte es zu jeder Zeit an jedem Ort gegeben. Männer, die für einen Potentaten, der den Geldbeutel aufschnürte, die Drecksarbeit erledigten. Ganz egal, ob es sich um Mord, Raub oder das Besorgen von mehr oder weniger willigen Sklavinnen handelte.
Aber er antwortete ohnehin nicht. Also krallte sie sich in die Mähne des Pferdes, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und beschloss, es als positives Zeichen zu sehen, dass der Dolch noch immer in seinem Gürtel steckte.
Und nicht in ihrem Rücken.
dreizehn
Tessa hatte erwartet, dass sie den Wald verlassen würden, aber der Reiter dirigierte das Pferd genau dorthin, wo das Licht immer länger brauchte, um den Boden zu erreichen. Tiefer und tiefer tauchten sie in das Dickicht ein. Die Luft wurde kühler, es roch nach Moos und Pilzen. Irgendwo plätscherte ein Bächlein.
Tessa versuchte, sich Orientierungspunkte zu merken, entdeckte aber keinen einzigen. Wie der Reiter seinen Weg fand, blieb ihr ein Rätsel. Dennoch zögerte er nicht ein einziges Mal, das Pferd machte keinen falschen Schritt auf den schmalen, von Wurzeln und Ästen bedeckten Pfaden. Wie viel Zeit vergangen war, als sie schließlich eine Hütte erreichten, konnte sie nicht einmal vage schätzen.
Der Mann stieg ab und streckte ihr die Arme entgegen, um ihr beim Absteigen zu helfen. Ohne zu zögern nahm sie sein Angebot an und blickte sich um, sobald sie sicher auf dem Boden stand.
Die Hütte war klein, auf dem Dach lagen Grassoden, die wild wucherten. Ein offener Anbau gewährte einen Blick auf eine Arbeitsstätte mit langen Tischen und einem gewaltigen Ambos, auf dem ein ebenso gewaltiger Hammer lag. Neben der Esse stand ein großes, steinernes Becken, das mit Wasser gefüllt war. An den Wänden hingen verschiedene Gerätschaften und Schöpfkellen. In einen der Tische war ein runder Schleifstein eingearbeitet, der mit einem Fußpedal in Bewegung gesetzt werden konnte.
Nachdem Tessa sich umgesehen hatte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Mann zu, der das Pferd abzusatteln begann.
„Wo ist Meldis?“, fragte sie kurzentschlossen. Schließlich hatte er sie mit diesem Köder hergelockt.
Die Antwort bestand aus einer Kopfbewegung in Richtung Hütte. Da sie ganz offensichtlich nicht mehr bekommen würde,
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