Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Henz
Vom Netzwerk:
dem Verbleib seiner Tochter ausfragen und möglicherweise für alles verantwortlich machen würde. Was in weiterer Folge bedeutete, dass man sie ohne viel Federlesens für ihre Verfehlungen bezahlen lassen würde. Mit ihrem Leben.
    An Solveig konnte sie sich aus denselben Gründen auch nicht wenden, nicht einmal, wenn sie wüsste, wo sich diese aufhielt. Nach langem Überlegen beschloss Tessa, nach Süden zu gehen, wenn sie tatsächlich fliehen konnte. Olso gab es vermutlich noch nicht, aber Berre und Oseberg sollten schon gegründet sein. Ein gewagter Plan, hatte sie doch keine Idee, wie weit entfernt von diesen Städten sie sich befand. Aber wenn sie jemals wieder in ihre Zeit zurück wollte – und das wollte sie ganz entschieden! – dann musste sie die Maske finden. Und hier war sie ganz sicher nicht, denn in Kaldaks durchaus überschaubarem Haushalt hatte Tessa bereits jedes Holzkästchen und jede Truhe durchstöbert, ohne fündig zu werden.
    Das Schmieden dieser Pläne beschäftigte sie dermaßen, dass sie für das Geturtel von Meldis und Kaldak kein Auge hatte. Deshalb war sie auch mehr als überrascht, als Meldis ihr voller Stolz zwei Stoffbündel zeigte, eines aus feinstem Brokat und eines aus schwerem Samt. Daraus wollte sie ihren und Kaldaks Hochzeitsstaat nähen, und Alva hatte ihr dabei behilflich zu sein.
    „Woher hat er denn diese teuren Stoffe?“, fragte Tessa erstaunt und ließ den dunkelblauen Samt durch die Finger gleiten.
    „Das ist sein Geheimnis.“ Meldis betrachtete die Gaben stolz. „Aber Kaldak sagt, das ist erst der Anfang. Ich werde noch viel, viel mehr bekommen.“
    Tessa enthielt sich jeden Kommentars. Gemeinsam mit Meldis schnitt sie die Gewänder zu und versuchte, ihre Nähte so gerade wie möglich zu setzen. Dabei kramte sie in ihren Erinnerungen, was die Hochzeitssitten der Wikinger anbelangte.
    Ein rauschendes Fest, das tagelang dauerte und an dem das ganze Dorf teilnahm. Ein Opfer, um die Götter gnädig zu stimmen. Frohsinn und Heiterkeit, Glück und langes Leben, viele Kinder und eine reiche Ernte, das waren die Wünsche, die man den Brautleuten überbrachte.
    Wie das alles hier vor sich gehen sollte, war Tessa ein Rätsel. Wer sollten die Gäste sein? Wo sollte die Zeremonie stattfinden? Wer sollte sie abhalten? Je länger sie darüber nachdachte, desto unwohler fühlte sie sich. Sie schlief schlecht, hatte Alpträume, in denen sich Serre und Kaldak an die Kehle gingen oder schreiende Säuglinge mit Schwertern zerhackt wurden. Schweißgebadet wachte sie auf und blieb mit rasendem Herzschlag hellwach liegen.
    Ob das der Auslöser dafür war, dass sie untertags oft den roten Faden verlor, wenn sie sich mit Meldis unterhielt und immer häufiger sekundenlange Blackouts bekam, wusste sie nicht. Aber allmählich gelangte sie zu der Überzeugung, dass sie den Verstand verlor.
    Kurz nachdem Kaldak Meldis die wertvollen Stoffe überreicht hatte, brachte er von einem Ausritt eine gesattelte und aufgezäumte Fuchsstute mit. Es war ein warmer Tag und Tessa saß mit Meldis vor der Hütte, um an den Gewändern zu nähen. Überrascht blickten beide Frauen auf, als er die Stute an den Zügeln näher führte.
    „Für dich, Meldis, ein kleines Geschenk als Ausdruck meiner Liebe und Verehrung.“ Er lächelte das Mädchen an und Meldis sprang auf. „Ein Pferd?“, rief sie aus und lief auf ihn zu. „Für mich ganz alleine?“
    Freudestrahlend strich sie über das glänzende Fell des Tieres, das ruhig neben Kaldak stand, und nur die Ohren bewegte. Auch Tessa erhob sich. Wenn er ein Pferd gekauft hatte, dann musste es hier in der Nähe einen Markt geben, oder zumindest einen Pferdehändler. Das brachte frischen Wind in ihre Fluchtpläne.
    Meldis, die fortfuhr das Fell und die Nüstern zu streicheln, legte ihre Stirn in Falten. „Aber ich kann nicht besonders gut reiten. Vater hat nur zwei alte Mähren, die den Wagen ziehen. Ich habe erst ein paar Mal auf einem Pferd gesessen.“
    „Keine Angst. Ich bringe es dir bei. Und später auch das Jagen.“ Er sah sie mit einem Blick an, in dem so viel Liebe und Verlangen lag, dass es Tessa einen Stich versetzte.
    Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich gewünscht, dass jemand sie so anblickte. Aber sie bekam nur Schulterklopfen, One Night Stands und lahme Ausreden. Immer war sie eine Statistin, die zusah, wie jemand anders die Hauptrolle spielte. Sogar bei diesem unglaublichen Abenteuer war sie nichts weiter als eine Zuschauerin. Berit wäre nach

Weitere Kostenlose Bücher