Stachel der Erinnerung
weggetragen hatte? Und wohin hatte er es getragen? Auf jeden Fall stand für Tessa unumstößlich fest, dass die beiden Männer in der Schmiede nicht allein gewesen waren. Das Jammern war von keinem Tier gekommen. Sondern von einem Menschen. Aber das Bündel konnte kein Mensch gewesen sein, dafür war es Tessa zu klein erschienen. Und Kaldaks Bewegungen zu mühelos. Immerhin hatte er es auf seinen ausgestreckten Armen getragen.
Sie runzelte die Stirn, weil ihr ein Gedanke kam, der ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Es sei denn … verborgen unter den Tüchern hatte ein Kind gelegen.
„Ich frage dich zum letzten Mal, wie viele willst du noch?“ Kaldak ging ungeduldig auf und ab.
„So viele, wie ich bekommen kann“, erwiderte seine Schwester und schlug die Tücher zurück. „Übrigens hat dich Odin für vogelfrei erklären lassen, er sieht deine Geschäfte mit den Sterblichen als persönlichen Verrat an. Du wirst in Zukunft vorsichtiger sein müssen, wenn du herkommst. Kers, Vigard und Term sind dir bereits auf den Fersen.“
Er beachtete ihren Einwand nicht, sondern baute sich neben ihr auf. „Mittlerweile habe ich dir schon Hunderte gebracht, es muss doch irgendwann genug sein“, knirschte er durch die Zähne. „Erfülle endlich deinen Teil des Pakts und gib mir Balder.“
„Für mich ist es noch lange nicht genug, Kaldak. Hat mich gefreut dich zu sehen, bis zum nächsten Mal, kleiner Bruder.“ Sie wandte sich ab und schickte sich an, den Raum durch eine mit schwarzem Onyx verkleidete Tür zu verlassen.
Mit zwei Schritten war er bei ihr und hielt sie an den Schultern fest. „Nein. Ich will Balder. Sofort. Ich habe meine Gründe, jetzt zu handeln.“
„Tatsächlich? Und du glaubst, das kümmert mich?“, antwortete sie trocken. „Ich sage, wann es genug ist, Kaldak, und nur ich. Damit wirst du dich abfinden müssen.“
Er ließ sie los und verzog angewidert das Gesicht. „Gibt es keine andere Möglichkeit?“ In seiner Stimme lag ein flehender Unterton und er hasste sich dafür. Aber für Meldis würde er sich noch mehr erniedrigen, als er es bereits getan hatte. Meldis. Ein Geschenk, das ihm so unverhofft zugefallen war und das er um jeden Preis behalten wollte. Äonen an Einsamkeit schmolzen durch ihre Liebe zu bedeutungslosen Augenblicken. Um ihr den Rahmen zu geben, der ihr zustand, würde er sich sogar vor seinem nichtsnutzigen Vater Loki, der seinen Samen im Schoß einer sterblichen Hure vergossen hatte, in den Staub werfen, und Odin anflehen …
Er zwang seine Gedanken in eine andere Richtung. Nein, er würde nicht flehen. Er würde sich nicht mehr wie ein lästiges Insekt behandeln lassen, denn im Moment, in dem er Balder nach Asgard zurück brachte, standen sie alle in seiner Schuld. Er wäre nicht länger ein verspotteter Bastard Lokis, der zu einem Dasein abseits der Göttertafel verdammt war. Sie würden ihn feiern und er konnte endlich seinen rechtmäßigen Platz unter den Göttern einnehmen. Mit Meldis an seiner Seite.
Er straffte sich und erwiderte den Blick seiner Schwester, die ihn nachdenklich betrachtete. „Vielleicht gibt es tatsächlich eine Möglichkeit …“
Der Gedanke an die mitternächtliche Szene ließ Tessa auch in den nächsten Tag nicht los. Sobald sie sich unbeobachtet fühlte, schlug sie die Richtung ein, die Kaldak gewählt hatte, als er mit dem Bündel in den Wald ging. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie fand nichts. Nicht einmal die Tücher. Was immer er in der bewussten Nacht getan hatte, es würde sein Geheimnis bleiben.
Kein Geheimnis machte Kaldak allerdings aus seinen Absichten in Bezug auf Meldis. Tessa erschien es, dass ihn ihre Worte eher angespornt hatten, als ihn davon abzuhalten, das Mädchen zu hofieren. Natürlich war sie nicht in der Position, etwas dagegen zu tun. Meldis hörte ihr gar nicht zu, wenn sie versuchte, alle Nachteile aufzuzählen, die ihr eine Ehe mit einem Mann brachte, von dem sie praktisch nur den Namen kannte. Auch ihre vorsichtigen Andeutungen, dass sie selbst nicht hierbleiben wollte und dass Meldis ihr die Freiheit schenken sollte, wurden nicht erhört.
Wenn sie weg wollte, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als bei Nacht und Nebel zu verschwinden. Und gleichzeitig zu hoffen, dass Kaldak sie nicht verfolgte. Allerdings hatte sie nicht den Hauch einer Ahnung, wohin sie sich wenden sollte, im Falle, dass ihr die Flucht tatsächlich gelang.
Zurück zu Arne konnte sie nicht, da er sie nach
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