Stachel der Erinnerung
Gedanken, dass sie Meldis Gesicht auf ihrem eigenem gehabt hatte, drehte sich ihr der Magen um. Angewidert schob sie den Teller mit den Resten des Rühreis zur Tischmitte. Ihr war der Appetit vergangen.
Berit kannte weniger Skrupel und zog den Teller mit einem gierigen Ausdruck auf dem Gesicht näher. Innerhalb von zwanzig Sekunden war er leer.
„Wenn ihr jetzt noch selbst spült, kriegt ihr den Orden als die besten Gäste, die das Torget Sjøhus je gehabt hat.“
Tessa starrte auf die Tischplatte. Sie wollte nicht aufblicken. Sie wollte ihm und damit der Personifizierung ihrer doppelten Schande nicht ins Auge sehen.
Berit hatte auch damit keine Probleme. Ganz im Gegenteil, wenn es nach dem freundlichen Tonfall ging, den sie plötzlich anschlug. Über diesem Ort musste tatsächlich ein Zauber liegen, ein fauler Zauber. „Haben Sie etwas Neues herausgefunden, Nick?“
Stuhlbeine kratzten über den Bodenbelag. In Tessas Gesichtsfeld tauchten eng beschriebene Papierblätter auf, die eine große Hand an den Rändern flach streifte. Die Hand, die auf ihrem nackten Schenkel gelegen hatte, während er …
Sie wusste, dass sie den Kopf heben musste. Je länger sie wartete, desto peinlicher wurde die Situation. Also richtete sie ihre Halswirbel Millimeter für Millimeter auf. Während sie das tat, fühlte sie, wie das Blut in ihre Wangen schoss. Auch das noch! Mit dem Mut der Verzweiflung schob sie das Kinn vor und ließ ihren Nacken einrasten.
Die Tatsache, dass er plötzlich Altphilologe war, hatte ihn rein äußerlich nicht verändert. Sein blondes Haar hing noch immer auf den Kragen des Flanellhemds und seine Augen sahen noch immer aus wie Milchglasscheiben. Nur blickten sie sie gerade dermaßen durchdringend an, als wollte er wissen, welche Lebensmittel aus seinem Eiskasten sich jetzt in ihrem Magen befanden.
„Nichts, was ich nicht schon vorher erzählt habe“, beantwortete er Berits Frage und wandte sich an Tessa. „Übrigens, Ihr Vater konnte mich nicht leiden. Falls das hilft.“
Sie starrte ihn an. „Was?“, flüsterte sie heiser und völlig ungläubig.
„Ihr Vater“, wiederholte er geduldig. „Ich habe ein paar seiner Thesen zerpflückt, und als wir uns auf einem Kongress begegneten, hätte er mich am liebsten mit Salzsäure überschüttet.“
Sie konnte es nicht glauben. Der Mann, von dem sie nicht einmal wollte, dass er ihren zweiten Vornamen erfuhr, wusste Details aus ihrem Familienleben. Aus ihrem alles andere als harmonischem Familienleben.
„Berit“, sagte sie drohend, sobald ihr die Stimme wieder gehorchte, „was in drei Teufels Namen hast du ihm erzählt?“
„N … nichts Wichtiges, ehrlich, nur ein paar unwesentliche Kleinigkeiten“, antwortete Berit. „Was man eben an einem Krankenbett so spricht.“
Tessa sah Nick an und im gleichen Moment war ihr klar, dass er alles wusste. Von ihrem Selbstmordversuch, vom Tod ihrer Schwester, von ihren Selbstzweifeln, vom schwierigen Verhältnis zu ihrem Vater. Dem er zu allem Überfluss auch noch persönlich begegnet war.
Wenn es einen Gott gäbe, würde er die Erde aufklaffen und sie darin verschwinden lassen. Aber natürlich gab es keinen Gott. Oder zumindest keinen für sie.
„Tja, da mich der Fußboden nicht verschluckt, müssen wir wohl weitermachen.“ Zu ihrer Erleichterung gelang ihr der lockere Tonfall perfekt. „Was sind unsere nächsten Pläne?“
Nick zuckte mit den Schultern. „Warten, bis das Unwetter vorbei ist, dann können Sie Ihren Fund in Sicherheit bringen und berühmt werden.“
Tessa griff nach den Papieren, die vor ihm lagen. Zwar hatte sie Grundkenntnisse in altnordischen Sprachen, aber es war nicht ihr Spezialgebiet. Wenn sie sich konzentrierte, würde sie den Inhalt sicher zusammenbekommen, aber warum sich die Mühe machen, wenn der Fachmann am selben Tisch saß. „Was will uns das hier sagen?“
„Ein Lamento über verlorene Liebe, Verschwörungen, Betrug und gebrochene Verträge in verschiedenen Variationen. Drohungen, Racheschwüre, Beschimpfungen.“
„Gibt es Namen?“, fragte Tessa.
„Nein, aber ich bin ziemlich sicher, dass es von einem Mann stammt.“ Seine Lippen verzogen sich leicht. Mit etwas Fantasie hätte man das für ein Lächeln halten können. „Keine Frau würde derart plumpe Drohungen ausstoßen. Rache von Frauen ist für gewöhnlich effizienter und raffinierter. Kein sinnloses Gemetzel, keine Gewaltorgien.“
Tessa dachte nach. Kaldak hatte zwar seine Liebe zu Meldis immer
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