Stachel der Erinnerung
sich suchend um.
Da erst entdeckte sie den Mann neben sich. Sie atmete scharf ein. Serre.
Er drehte sich zu ihr und im selben Moment presste sie die Hand auf den Mund, um nicht aufzuschreien.
Der Mann neben ihr war Serre. Aber die Augen, mit denen er sie ansah, gehörten Nick.
achtzehn
„Was zum Teufel soll das?“ Er knurrte die Worte mehr, als dass er sie aussprach. „Wo bin ich?“ Er zog die Augenbrauen zusammen. „Und wer bist du?“
Tessa starrte ihn verdattert an. „Alva … ich meine Tessa …“ Er erkannte sie nicht! Sicherheitshalber erkundigte sie sich: „Nick? Du bist doch Nick? Oder bist du Serre?“
„Wer ist Serre?“, fragte er verständnislos und hob den Arm, um sich sein Hemd zu besehen. Dabei fielen ihm die Zöpfchen ins Gesicht und er zuckte zusammen.
Tessas Sinn für Humor gewann die Oberhand und sie verbiss sich das Lachen. Die Situation war fraglos ernst. Aber dieser Dialog gab dem Begriff Blind Date eine völlig neue Bedeutung.
Sie verbeugte sich theatralisch. „Willkommen in der Vergangenheit. Sieht so aus, als hätte uns Daria wieder zurückgeschickt, statt der verlorenen Seele ihre Stimme zu leihen.“
Die hellen Augen musterten sie von oben bis unten. „Du kannst nicht Tessa sein …“
„Nein? Warum nicht?“, erkundigte sie sich überrascht und registriert mit noch größerer Überraschung, dass er um sie herum ging. Dann blieb er wieder vor ihr stehen und sah sie forschend an.
„Na?“
Sichtlich widerstrebend bequemte er sich schließlich zu einer Antwort. „Sie ist anders.“
„Ja klar. Alva sieht anders aus, aber ich bin’s trotzdem“, fügte sie mit einem Anflug von Ungeduld hinzu.
„Und wer ist Alva?“, erkundigte er sich im Plauderton.
Tessa runzelte die Stirn. Dann fiel ihr ein, dass er nicht dabei gewesen war, als sie ihre Geschichte erzählt hatte. Nicht bei Berit und nicht bei Daria. Diese Erkenntnis ernüchterte sie, weil sie unbewusst davon ausgegangen war, dass er sofort verstand, was Sache war.
„Eine Sklavin. Alva ist die Sklavin von Meldis, einer jungen Frau aus einer Bondi-Familie.“ Sie hielt inne, weil ihr die Worte des Mediums einfielen – du bist nicht ohne Grund in die Vergangenheit gereist. Das war eine der wenigen Thesen, die sie Daria ohne zu zweifeln glaubte. Es hatte einen tieferen Zweck, dass sie zurückgekehrt war, und jetzt begriff sie diesen Grund auch. Das erste Mal sollte sie den Mord mit ansehen. Und jetzt, da sie wusste, worum es ging, sollte sie ihn verhindern.
Diese Erklärung war sinnvoll. Nur, warum Nick ebenfalls zurückgeschickt worden war und ausgerechnet in Serres Körper landete, blieb ihr ein Rätsel. Und nicht nur ihr.
„Wie konnte das nur passieren?“, murmelte er und steckte zum dritten Mal die Zöpfchen hinters Ohr, wo sie nicht bleiben wollten.
Tessa zuckte die Schultern. „Vielleicht wurde sie wieder abgelenkt. Durch eine stärkere Macht oder so.“
„Und deshalb sind wir hier? Warum? Und wie kommen wir wieder zurück?“ Seine Stimme klang verärgert. Er fing an, auf und ab zu gehen.
Tessa verschränkte die Arme vor der Brust und folgte ihm mit Blicken. „Als ich das erste Mal hier war, habe ich einen Mord mit angesehen. Ich nehme an, dieses Mal soll ich ihn verhindern.“ Da er nicht stehen blieb und auch nicht antwortete, wagte sie eine kühne Vermutung. „Möglicherweise sollst du mir dabei helfen.“
Er baute sich ihr gegenüber auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Ich soll dir helfen, einen Mord zu verhindern, der vor mehr als 1000 Jahren geschehen ist? Bist du noch zu retten?“ Sein durchdringender Blick brachte wieder einmal Farbe in ihre Wangen. „Diese Menschen sind tot, für uns sind sie seit über 1000 Jahren tot! Egal, ob ermordet oder nicht ermordet.“ Er schüttelte den Kopf und lachte verächtlich.
Fantastisch. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Ein pragmatischer Zweifler. „Sagt dir das Wort Gerechtigkeit etwas?“, erkundigte sie sich scharf. „Gerechtigkeit verjährt nicht. Hier wird das Leben eines jungen Mädchens gewaltsam beendet. Sie hätte ein Recht gehabt auf Glück, auf eine Familie, auf Kinder. Das alles wurde ihr durch ihren vorzeitigen Tod genommen.“
Beißender Spott mischte sich in seine Stimme, als er antwortete. „Das Leben ist nicht gerecht. Wo lebst du, dass du glaubst, das Leben sei gerecht, Tessa Wernhardt? Und wer glaubst du, dass du bist, um zu beurteilen, was gerecht ist und was nicht?“
Seine unvermittelte Aggressivität
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