Stachel der Erinnerung
die Familie zu sorgen. Niemandem – und ihm am allerwenigsten – wäre eingefallen, diesen Umstand zu thematisieren. Oder zu kritisieren. Im Grunde wäre er gar nicht auf die Idee gekommen, dass man darüber diskutieren konnte.
Er strich mit der Hand über ihren Arm. Der Gedanke, eigene Kinder zu haben, erschlug ihn beinahe, er fand ihn so unvorstellbar, so gigantisch, dass er ihn ehrfürchtig von allen Seiten betrachtete. Mit Astrid war es nicht möglich gewesen, die Dauermedikation und ihr geschwächter Köper hatten eine Schwangerschaft verhindert. Und er hatte ohne zu klagen akzeptiert, dass er nie Kinder haben würde. Aber jetzt war alles anders. Als bekäme er vom Schicksal tatsächlich eine neue Chance. Er würde diese Chance nutzen, dachte er und drückte seine Lippen auf Tessas Scheitel. Zuerst würden sie sich um Meldis kümmern, dann würden sie über ihre eigene Zukunft reden. Und wie sie wieder zurückkamen. Oder was sie tun sollten, wenn sie hierbleiben mussten. Laut Tessas Angaben besaß Serre Haus und Grund unweit von Arnes Anwesen.
Auch das wäre eine Alternative. Er war mit dem Leben hier nicht unzufrieden, bisher war ihm nichts abverlangt worden, was er nicht hätte leisten können. Das Leben verlief in viel beschaulicheren Bahnen als im 21. Jahrhundert. Keine Hektik, kein Stress, keine Abgase, kein Elektrosmog.
Aber ganz egal ob hier oder in seiner Zeit, er würde bis an sein Ende mit Tessa glücklich und zufrieden leben.
Sie bewegte sich wieder in seinen Armen und blinzelte ihn schließlich verschlafen an. „Sollte ich dich kennen?“, fragte sie mit übertrieben gefurchter Stirn.
Er erwiderte ihr Lächeln. „Ich helfe dir gerne auf die Sprünge.“ Seine Hand schloss sich um ihre Brust. „Mein Name fängt an mit „mach weiter“ und endet mit „hör nicht auf.“
„Schöner Name.“ Sie legte ihm die Arme um den Nacken. „Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Tessa und Alva?“, fragte sie dann, unvermittelt ernst.
Er strich mit dem Daumen sanft über die Rundung ihrer Brust. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Weiß nicht, fiel mir eben ein.“ Sie spielte mit seinem langen Haar. „Also, sag schon.“
Er überlegte. „Tessa ist … widersprüchlich. Ihre Haltung sagte – bleib weg, komm ja nicht näher. In ihren Augen aber lag ein Hunger, ein Flehen nach … nach …“, er brach ab. „Sie war … voller Distanz, voller Ernsthaftigkeit und gleichzeitig auf der Suche nach Nähe. So unterschiedliche Signale – kein Wunder, dass du Schwierigkeiten mit Männern hast.“
Jetzt war ihre Stirn wirklich gerunzelt. „Und Alva?“
„Alva ist völlig anders. Sie strahlt eine ganz unglaubliche Vitalität und Lebensfreude aus. Sie ist viel lockerer, viel unverkrampfter.“
Sie sah ihn unverwandt an und er kannte ihre nächste Frage, noch ehe sie sie aussprach. „Also wärst du mit Tessa nicht ins Bett gegangen – nicht so wie, wir es gerade getan haben, meine ich?“
„Ich weiß es nicht.“ Er dachte nach. „Aber du bist doch auch jetzt Tessa. Du kannst doch nur die Aura und die Ausstrahlung haben, die von deiner Seele kommt, nicht von deinem Körper.“
„Meinst du?“
„Vielleicht kann in Alvas Körper ein Teil von Tessa an die Oberfläche kommen, der sonst immer verdeckt bleibt“, fuhr er fort.
Sie ließ ihn los und legte sich wieder hin. „Alva hat vermutlich immer alles bekommen, was sie wollte. Sie hat keine Sorgen, muss keine Entscheidungen treffen. Ich dagegen laufe meinen Wünschen seit 32 Jahren hinterher, ohne sie zu erreichen. Nichts in meinem Leben hat jemals so funktioniert, wie ich wollte, dass es funktioniert. Alle meine Entscheidungen waren falsch.“
Er hörte das Selbstmitleid aus ihren Worten, aber ihre spürbare Verletzlichkeit hinderte ihn daran, darüber zu spotten. „Nicht alle“, sagte er deshalb ernsthaft. „Nach Bjørendahl zu kommen war keine falsche Entscheidung.“
Sie lächelte, aber ihre Augen blieben traurig. „Du hast recht. Bjørendahl hat mein Leben wirklich verändert. Danke, dass du mich daran erinnert hast.“
Das war nicht die Antwort, die er hören wollte. „Tessa, du solltest wissen, dass das, was heute Nacht passiert ist, für mich eine ganz besondere Bedeutung hat. Es ist nicht einfach nur … Sex.“
Die Stille drohte ihn zu erdrücken und er spürte, wie sich die Distanz zwischen ihnen vergrößerte. Mit einem Anflug von Panik fragte er sich, was er jetzt wieder falsch gemacht hatte. Ihren früheren
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