Stachel der Erinnerung
attraktiven Mann verliebt, so sehr, daß sie ihm vor zwei
Tagen eine Nachricht geschickt hatte, in der sie ihm erklärte, daß sie im Hyde
Park ausreiten würde, und ihn gebeten hatte, ihr Gesellschaft zu leisten.
Das hatte
er natürlich getan, doch ihre Begegnung war nicht so verlaufen, wie sie sich
das vorgestellt hatte. Statt des galanten Lords, der sie in den Gärten von
Vauxhall beschützt hatte, hatte St. Cere den Wüstling gespielt. Er hatte sie
gedrängt, sich heimlich mit ihm zu treffen, hatte von ihr verlangt, sich in der
Nacht zum Carlton House wegzustehlen, als wäre sie eine seiner Geliebten.
Insgeheim war
sie allerdings in Versuchung gewesen, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.
Allein der
Anblick von Adam Harcourt ließ ihren ganzen Körper prickeln. Wenn er nicht so
unverschämt gewesen wäre, wenn er nicht auf eine so typisch männlich
dominierende Art versucht hätte, sie zu zwingen – hätte sie sich einen Besuch
bei ihm eventuell überlegt.
Statt
dessen hatte sie seine Bitte rundheraus abgelehnt.
Sie hatte
allerdings erwähnt, daß sie heute abend das Theater besuchen würde, in
Gesellschaft ihrer Eltern. Sie war nicht sicher, ob er kommen würde, doch
hoffte sie es insgeheim. Verschwiegen hatte sie ihm jedoch, daß sein Freund
Lord Bascomb, Lord Montagues ältester Sohn, sie an diesem Abend begleiten
würde. Das konnte St. Cere dann selbst feststellen.
»Lord und Lady
Waring, Lady Gwendolyn, ich bitte um Verzeihung für meine Säumigkeit.« Bascomb
zog seinen Umhang aus. »Ich hatte keine Möglichkeit, meine Besprechung auf
einen anderen Zeitpunkt zu verlegen. Ich weiß Eure Nachsicht zu schätzen, daß
ich mich hier mit Euch treffen kann.« Peter Montague, Lord Bascomb, war
schlank, mittelgroß, mit schütterem, braunem
Haar, und etwa zehn Jahre älter als Gwen. Im Gegensatz zu seinem schlichten
Aussehen kleidete er sich immer bunt wie ein Pfau, was sein Aussehen noch unbedeutender
machte.
»Das ist
nicht der Rede wert«, wehrte Waring höflich ab. »Das Stück hat noch nicht
begonnen, und wir sind auch gerade erst angekommen.« Bascomb war ein Günstling
des Grafen. Gwen nahm an, daß ihr Stiefvater sie mit ihm verheiraten wollte.
Der Grund dafür war vermutlich, daß ihr Stiefvater an Geschäften Lord Montagues
beteiligt war, daher eine gewisse Kontrolle über ihn und demzufolge auch über
seinen Sohn hatte.
Was auch
immer seine Gründe waren, Gwen war entschlossen, ihn abzuweisen. Sie würde
weder Peter noch einen anderen Mann heiraten. Sie lächelte Lord Bascomb an und
machte eine nichtssagende Bemerkung über das Stück, das sie sehen würden, eine
Satire mit Namen The Tailors. Doch interessiert war sie daran, ob St.
Cere anwesend war.
Nach der
Hälfte des Stückes war Gwen sicher, daß er nicht kommen würde. Das Theater war
an diesem Abend überfüllt. Es war ein dreistöckiges, üppig mit Rot und Gold
ausgestattetes Gebäude. Schwere Vorhänge aus Samt schirmten die drei Reihen
der privaten Logen ab, in denen die reichen Zuschauer saßen. Der Rest der
Besucher drängte sich in den unzähligen Reihen im Parkett.
Doch St.
Cere war weder in den Logen noch in der Menge aufgetaucht.
Gwen saß
bedrückt in der mit Samt ausgeschlagenen Loge ihres Stiefvaters. Sie
ignorierte Peters übertrieben strahlende Blicke und starrte auf die Bühne.
Wenigstens war die Vorstellung interessant, wenn auch nicht unbedingt das
Stück selbst, sondern eher die Zwischenrufe aus dem Parkett. Wie es schien,
schaute die Hälfte der Schneider Londons zu, und die waren ganz und gar nicht
zufrieden mit der Art und Weise, wie ihr Berufsstand in diesem Stück
dargestellt wurde.
Kurz bevor
der zweite Akt begann, verließ Gwen die Loge und entschuldigte sich damit, in
den Ruheraum der Damen ge hen zu wollen. Statt dessen ging sie hinunter in die
Eingangshalle, um einen Augenblick Luft zu schöpfen von dem entsetzlichen
Lord Bascomb und den lüsternen Blicken, mit denen Lord Waring sie bedachte.
»Guten
Abend, Mylady.«
Gwen
wirbelte beim Klang der tiefen Männerstimme herum. »St. Cere ... ich ... ich
hatte nicht geglaubt, Euch heute abend hier zu sehen.«
Er preßte
leicht die Lippen zusammen. »Offensichtlich nicht, denn Ihr seid mit Bascomb
hier.« Seine Stimme klang ein wenig verärgert, oder war es vielleicht
Eifersucht, die sie heraushörte? Gwen konnte sich nicht vorstellen, daß der
gutaussehende, berüchtigte Vicomte eifersüchtig auf einen anderen Mann sein
sollte, und ganz bestimmt nicht auf
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