Stachel der Erinnerung
war ein
verlockendes Ziel.
Lady
Caroline Winston
ging durch die Bow Street zu dem dreistöckigen Gebäude an der Ecke und betrat
das Büro eines gewissen Willis G. McMullen. Er war der Detektiv, den sie beauftragt
hatte, alles über die Herkunft der neuen Gräfin von Strickland herauszufinden.
»Kommt
herein, Mylady«, begrüßte der etwas verkommene kleine Mann sie. »Ich stehe
sofort zu Euren Diensten.« Seine Kleidung war zwar sauber, aber zerknittert und
ungepflegt. Sein Gesicht zeigte einen Zwei-Tage-Bart.
Er deutete
auf einen wackligen Stuhl, doch Caroline blieb lie ber stehen. Sie versuchte,
Abstand zu halten von den Stapeln vergilbter Zeitungen, die ebenso seinen
Schreibtisch wie auch den Fußboden bedeckten.
»Was habt
Ihr herausgefunden, Mr. McMullen?« Sein Büro sah zwar schäbig aus, aber wenn
sie dem Anwalt ihrer Familie glauben wollte, so war McMullen ein äußerst
fähiger Detektiv.
Der kleine
Mann kratzte sich am Kopf, und Strähnen seines sandfarbenen Haars standen zu
Berge. »Das ist ein verteufelt ... Entschuldigt, Miss. Vor gut vier Jahren ist
Eure Miss Fox, die Dame, um die es hier geht, ganz plötzlich aufgetaucht. Sie
kam praktisch aus dem Nichts.«
»Was ist
mit ihrem Vater Simon Fox, dem Cousin des Marquis aus Devon? Sicher habt Ihr
ihn doch finden können.«
»Keine Spur, Mylady.«
»Nun, sie
kann doch nicht einfach so unvermittelt auftauchen. Von irgendwoher muß sie
gekommen sein. Ihr müßt nur weitersuchen.«
»Das ist
mir klar, Mylady, und das habe ich auch vor. Ich habe ganz High Wycomb
umgedreht. Sie kommt ganz sicher nicht aus der Gegend von Belmore. Aber der
Marquis hat ja auch noch einige andere Besitzungen – eine in Yorkshire und eine
in Wessex. Und dann ist da noch das Herrenhaus von Seaton, in der Nähe von
Bucklers Haven. Das gehört zwar seinem Sohn, aber ich werde auch dort
nachforschen.«
»Das ist
eine gute Idee, Mr. McMullen.« Caroline lächelte innerlich. In diesem Fall war
das, was er nicht gefunden hatte, beinahe ebenso wichtig wie das, was er ihr
berichten konnte. Jessica Fox kam nicht aus Devon, und es gab keinen Simon
Fox, und das bedeutete, daß der Marquis gelogen hatte. Und wenn das so war,
dann standen die Chancen gut, daß sie noch mehr Lügen würde aufdecken können.
Allein der
Gedanke daran weckte in Caroline den hämischen Wunsch, sich erfreut die Hände
zu reiben. Oder den Kopf zurückzuwerfen und laut zu lachen. Statt dessen zog
sie die Augenbrauen hoch und betrachtete kühl den untersetzten kleinen
Detektiv.
»Laßt mich
wissen, Mr. McMullen, wenn Ihr etwas herausgefunden habt, das mich
interessieren könnte.«
»Natürlich,
Mylady.«
Mit einem
befriedigten Lächeln verließ Caroline das Büro.
21
In einem anderen Teil Londons stieg am
selben Abend Gwendolyn Lockhart aus der eleganten schwarzen Kutsche des Grafen
von Waring und schloß sich ihrer Mutter und ihrem Stiefvater an, die an der
verzierten Tür des Theatre Royal in Haymarket auf sie warteten.
Seit der
Nacht seines lüsternen Benehmens in den Gärten von Vauxhall hatte der Graf sich
zuvorkommend und korrekt benommen. Er sprach kein Wort über sein abscheuliches
Benehmen, und Gwen schwieg ebenfalls.
Sie hatte
jedoch dafür gesorgt, daß sie fast nie allein in seiner Nähe war.
Gwen
seufzte leise, als sie die Kapuze ihres malvenfarbenen, mit Seide besetzten
Umhangs vom Kopf schob. Der Umhang paßte perfekt zu ihrem Brokatkleid mit der
hohen Taille. Ein Lakai in Livree, der gleich hinter der großen Eingangstür
stand, nahm ihr den Umhang ab und brachte ihn zur Garderobe. Es wäre so
erleichternd, mit ihrer Mutter über Warings widerliche Annäherungsversuche
sprechen zu können. Doch ihre Mutter würde ihr diese Geschichte niemals
glauben, selbst wenn sie insgeheim ahnte, daß sie stimmte. Sie würde so tun,
als hätte Gwen sich etwas so Häßliches nur ausgedacht.
Ihr gefiel
es, Gräfin von Waring zu sein. Sie liebte das Geld, und sie liebte den Einfluß,
den ihr Ehemann unter den Mitgliedern der Adelsgesellschaft besaß. Wenn ihre
Tochter dafür den Preis zahlen mußte, wäre es ein geringer Preis ... zumindest
war Lady Waring dieser Meinung.
Ihre Mutter
war ein schwacher Mensch, besonders, wenn es um den Grafen ging. Gwen wußte
sehr gut, daß sie in dieser Sache ganz allein auf sich gestellt war.
Bis auf die
Unterstützung von St. Cere. Er war der einzige Mann, der es je gewagt hatte,
sich dem Grafen zu widersetzen. Gwen hatte sich stürmisch in den
hochgewachsenen,
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