Stachel der Erinnerung
noch
nie zuvor gesehen.«
Jessie
allerdings schon. Betrüger und Gauner, Marktschreier und Galgenvögel. Sie war
froh gewesen, als sie endlich wieder in ihrem einfachen Zimmer in der Schule
war, mit den sauberen Bettbezügen und dem angenehmen Geruch, weit weg von all
den häßlichen Dingen, an die sie sich nur zu gut erinnerte. Gwen hatte sie noch
zu einigen anderen Abenteuern überredet; aber nur, weil Jessie diese Dinge
kannte, war sie in der Lage gewesen, Gwen von Schwierigkeiten fernzuhalten.
»Auf jeden
Fall«, eröffnete ihre Freundin ihr, »werde ich mich als Mann verkleiden und in
eine dieser Spielhöllen gehen.«
Jessie
schluckte und stellte sich einen Ort vor, der noch schlimmer war als das Black
Boar Inn. »Woher willst du denn die Männerkleidung bekommen?«
»Ich leihe
sie mir von einem meiner Cousins. Er ist die Saison über bei uns, aber in den
nächsten Tagen besucht er Freunde auf dem Land. Er ist gerade erst fünfzehn,
ein wenig größer als ich, aber ich bin sicher, seine Kleidung wird mir passen
und ihren Zweck erfüllen.«
Jessie
kaute nervös auf der Unterlippe. Von der anderen Seite des Raumes
beobachteten einige Männer sie, wahrscheinlich warteten sie darauf, daß die
beiden Mädchen zur Tanzfläche zurückkehrten. Die Musik des Orchesters wurde
leiser, und Jessie mußte flüstern, damit niemand hörte, was sie sich zu sagen
hatten.
»Gibt es
denn gar nichts, was ich tun kann, damit du diesen verrückten Plan aufgibst?«
Doch noch bevor die Freundin den Kopf schüttelte, kannte Jessie die Antwort
schon. »Ich wünschte, du hättest mir nichts davon erzählt.«
»Aber warum
denn nicht?«
»Weil ich
jetzt mit dir gehen muß.«
Gwen
klatschte in die Hände und grinste in einer Mischung aus Aufregung und Triumph.
Doch Jessie runzelte streng die Stirn. Ihre Freundin wußte nichts über Orte wie
die Spielhöllen auf der Jermyn Street, aber Jessie kannte sich aus. Die Männer
trugen teure Kleidung, und sie alle hatten nur ein Ziel – zu trinken, zu
spielen und zu huren.
Das war
ganz sicher kein Ort für eine Lady, nicht einmal für eine, die so
abenteuerlustig war wie Gwen.
Unglücklicherweise
liebte Jessie Gwen Lockhart. Gwen war für sie wie eine Schwester. Vielleicht
würde es ihr gelingen, sie noch einmal vor Schwierigkeiten zu bewahren.
Matthew lehnte sich auf dem Sofa in seinem
Studierzimmer zurück und blinzelte. Er blinzelte noch einmal, weil er seinen
Augen nicht glauben konnte. Er starrte aus dem Fenster, doch das Bild
verschwand nicht.
Sicher
trogen ihn seine Augen. Ganz bestimmt war das nicht Jessie Fox, die an zu einem
Seil zusammengebundenen Bettlaken aus ihrem Fenster im zweiten Stock kletterte.
Er mußte sich irren.
Matthew
beobachtete die Leichtigkeit, mit der Jessica an den Laken herunterkletterte,
doch eigentlich hätte ihn das nicht erstaunen sollen. Sie hatte damals das
Talent zu einer Trapezkünstlerin. Warum nicht auch heute? Er malmte mit den
Zähnen und sah ihr zu. Er hätte sie nicht entdeckt, wenn er nicht die Lampe
gelöscht und in der Dunkelheit gesessen hätte.
Er hatte
die Stille im Haus genossen, hatte die Glut im Kamin betrachtet und an die Norwich gedacht und sich gefragt, wie es seinen Männern wohl ohne ihn erging. Er
vermißte den Geruch des Meeres und die feuchte, salzige Luft, die Kameradschaft
zwischen den Offizieren und der Mannschaft, mit denen zusammen er an Bord des
Schiffes diente.
Er wünschte
sich, er könnte bei ihnen sein und nicht hier in London. Er sehnte sich danach,
das Schwanken des Schiffes unter seinen Füßen fühlen zu können, statt endlos
lange Abende damit verbringen zu müssen, sich von einer Armee beiratswilliger
Frauen verfolgen zu lassen – und sich nach der einen Frau zu sehnen, die er
nicht haben konnte.
Doch dann
hatte er an Belmore gedacht, und ein eigenartiger Friede war über ihn gekommen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte er versonnen aus dem Fenster gesehen – und Jessica
entdeckt.
Es bestand kein
Zweifel, er kannte die schlanke Gestalt, auch wenn sie Männerkleidung trug. Es
war nicht dieselbe Kleidung, in der er sie schon zuvor überrascht hatte. Heute
abend trug sie eine dunkle Hose, ein weißes Batisthemd und einen weinroten
Überrock, die Kleidung eines jungen Stutzers. Er fragte sich, woher sie das
wohl hatte. Dann stand er auf und fluchte gotteslästerlich.
Teufel und
Hölle! Dieser verdammte kleine Dummkopf würde sie noch alle ruinieren.
Dennoch
hielt er sie nicht auf. Er war entschlossen,
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