Stachel der Erinnerung
haben wollen.«
»Für mich
ist das auch nicht einfach, aber irgend etwas muß bald geschehen. Wie ich schon
sagte, Papa Reggies Gesundheit ist nicht so gut. Es wird ihm so lange Kummer
machen, bis ich versorgt bin. Deshalb möchte ich die ganze Sache beschleunigen.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihr gar nicht danach zumute war, dann
änderte sie schnell das Thema. »Wie steht es mit dir, Gwen? Wie sieht es in
deinem Leben aus?«
Das
Strahlen in Gwens großen grünen Augen erlosch. Mit ihrem perfekten Aussehen,
den roten Lippen und den üppigen Brüsten war Gwen Lockhart eine Frau, nach der
sich jeder Mann umdrehte. Doch eine Heirat war das letzte, was Gwen wollte.
»Die
Umstände sind noch immer die gleichen. Mein Stiefvater ist so gemein wie eh
und je. Meine Mutter versucht zwar, zwischen uns auszugleichen, aber wenn es um
Lord Waring geht, besitzt sie nicht genügend Kraft, um sich ihm zu widersetzen.«
Langsam kam Gwens Lächeln zurück. »Es ist besser geworden, seit wir in der
Stadt sind. Der Graf ist beschäftigt mit seinen Clubs und seinen Geliebten. Wir
sehen ihn kaum – und damit bin ich sehr einverstanden.«
Jessie
lachte. »Du bist noch immer die gleiche alte Gwen – Gott sei Dank.« Gwen
Lockhart sprach aus, was sie dachte. Vielleicht war dies eine der
Eigenschaften, die sie zusammengebracht hatte. Gwen machte aus ihrem Herzen
keine Mördergrube. In Mrs. Seymours Schule war Gwen ständig in Schwierigkeiten
gewesen. Sie wollte die Regeln nicht einhalten, und sie konnte nicht gehorchen.
Jessie dagegen war die perfekte Schülerin. Sie wußte, was sie wollte – sie
träumte davon, eine Lady zu sein. Sie war entschlossen, Papa Reggie stolz auf
sie zu machen, und nichts würde sie davon abhalten.
In vielen
Dingen waren die beiden das genaue Gegenteil. Aber Gwen hatte nur sehr wenige
Freundinnen, und Jessie fürchtete sich davor, jemanden zu nahe an sich
heranzulassen, weil sie ständig mit der Angst lebte, sich zu verraten.
Schließlich war zwischen ihnen beiden trotz allem eine Freundschaft gewachsen,
die auch die lange Zeit und die Entfernung überdauert hatte.
»Schreibst
du noch immer an deinem Buch?« fragte Jessie.
Gwen
nickte. »Beinahe jeden Tag.« Das war Gwens großer Traum. Sie wollte Schriftstellerin
sein, wollte Novellen schreiben und sie veröffentlichen. »Mir ist klar, wenn
ich damit fertig bin, werde ich es unter einem Männernamen an einen Verleger
schicken müssen, aber das ist mir egal. Ich werde wissen, daß es mein Buch ist,
daß ich es geschrieben habe.« Sie feixte schelmisch und zeigte ihre kleinen
weißen Zähne. »Das erinnert mich an etwas, rate einmal, wohin ich morgen abend
gehe?«
Jessies
Augenbrauen zogen sich zusammen. Sie kannte diesen Glanz in Gwens grünen Augen,
und er gefiel ihr nicht. »Zu Lady Dartmouths Soirée?« fragte sie hoffnungsvoll,
weil sie wußte, daß Lord Waring und seine Familie ganz sicher eingeladen
waren.
Gwen sah
sich um, um sicherzugehen, daß niemand sie hören konnte. Das Orchester spielte
aber temperamentvoll genug, als sie sich jetzt zu Jessie beugte und ihr
zuflüsterte: »Ich werde eine Spielhölle in der Jermyn Street besuchen.«
»Was?«
Jessie hatte dieses Wort herausgeschrien. Sie war dankbar, daß die Musik so
laut war. »Um Himmels willen, Gwen, das kannst du nicht machen!«
»Ich muß,
Jess. Wenn ich eine wirkliche Schriftstellerin werden will, dann muß ich
wissen, worum es im Leben geht. Ich muß alles sehen, ich muß begreifen, wie die
Dinge ablaufen. Ich muß Lebenserfahrung sammeln, wenn ich Erfolg haben will.«
Jessie
verstand besser als jede andere, wie es war, wenn man Träume hatte, die man
verwirklichen wollte. Aber es gab Dinge, die konnte eine Lady nicht tun. »Du
darfst das nicht machen, Gwen. Kannst du dir vorstellen, was passieren wird,
wenn jemand davon erfährt? Du liebe Güte, du würdest ruiniert sein.«
Gwen
schürzte die Lippen zu einem Schmollmund. »Und ich habe geglaubt, du würdest
das begreifen. In der Schule schienst du mich immer zu verstehen. Du wußtest,
wie wichtig mir meine Schriftstellerei war – daß sie mir alles bedeutete. Du
hast mir damals geholfen, als ich mir einen Hahnenkampf ansehen wollte und ...«
»Ja. Der
liebe Gott steh mir bei, und ich hatte schreckliche Angst, daß wir erwischt
werden würden. Wir waren beide entsetzt über all das Blut. Das war wohl kaum
ein angenehmer Abend.«
»Ja, aber
die Leute! Es waren so unglaublich interessante Leute. So etwas habe ich
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