Stachel der Erinnerung
brachte selbst die leisesten Spekulationen zum Verstummen.
Die Liste
ihrer Bewerber wuchs von Tag zu Tag. Sicher, so sagte sie sich, würde einer von
ihnen einen geeigneten Ehemann für sie abgeben. Sie waren alle sehr aufmerksam
und reich. Die meisten besaßen einen Titel, und bestimmt würde sie irgendwann
ihr Herz für einen von ihnen entdecken.
Es war
überhaupt keine Frage, daß sie heiraten würde. Es war Papa Reggies Wunsch, und
sie würde alles tun, um ihm eine Freude zu machen. Er hatte sie bei sich
aufgenommen, als sie total verhungert und völlig verloren gewesen war, als sie
sich danach gesehnt hatte, eine Nacht lang geborgen schlafen zu können, in
einem warmen Haus, weg von der eisigen Kälte. Alles, was sie besaß, gehörte
ihm, alles, was sie wußte, alles, was aus ihr geworden war.
Alles, was
sie war ...
Sie liebte
ihn, und sie würde ihm den einzigen Wunsch erfüllen, um den er sie je gebeten
hatte.
Aber es war
so schwierig, wenn Matthew in ihrer Nähe war. Sie versuchte, ihn zu ignorieren,
versuchte, das Flattern in ihrem Magen zu unterdrücken, das sie fühlte, wann
immer er ein Zimmer betrat, in dem sie sich aufhielt, oder wenn er ihre Hand
ergriff für den ersten Tanz des Abends, den Tanz, den sie jedes Mal für ihn
reservierte. Sie versuchte, ihren Schmerz zu unterdrücken, wenn er andere
Frauen mit seiner Aufmerksamkeit bedachte und sie selbst für Luft hielt.
Statt
dessen bemühte sie sich, sich auf die Männer zu konzentrieren, die ihr den
Hof machten. Doch keiner von ihnen konnte auch nur annähernd mit Matthew
konkurrieren. Niemand sah so gut aus wie er, war so hochgewachsen mit so breiten,
muskulösen Schultern. Mit seiner beeindruckenden Größe, den bezwingenden
tiefblauen Augen und dem dunkelblonden Haar in der Farbe des Goldes hob er sich
unter allen anderen hervor, ließ sie alle neben sich verblassen. Er schien klüger
zu sein als sie, härter, selbstsicherer als alle Männer zusammen, die sie
umschwärmten.
Und
vermutlich war der hochmütige Halunke das auch. Dieser verdammte Kerl, dachte
sie. Soll er doch zur Hölle fahren!
Offensichtlich
war Matthew Seaton der Dorn in ihrem Fleisch, und das schon seit der Zeit, als
sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.
»Jessie!
Jessie Fox! Bist du es wirklich?«
Jessies
Magen zog sich zusammen, ihr wurde übel. Niemand hier in London nannte sie
Jessie, alle kannten sie hier als Jessica. Lieber Gott, war sie so schnell
entdeckt worden? Sie zwang sich dazu, sich umzusehen. Als sie dann Gwendolyn
Lockhart entdeckte, ihre beste Freundin in Mrs. Seymours Schule, war sie vor
Erleichterung so schwach, daß sie beinahe schwankte.
»Jessie!«
Gwen nahm sie in die Arme, und die beiden Frauen drückten einander, eine von
ihnen groß, schlank und blond, die andere dunkelhaarig und zierlich. In den
meisten Dingen waren sie genaue Gegensätze, und doch ähnelten sie sich auf eine
Art, die sie beide selbst nicht begriffen.
»Gütiger
Himmel – Gwen, es ist so schön, dich wiederzusehen.«
Das
kleinere Mädchen strahlte sie an. »Ich kann es nicht glauben, daß du wirklich
hier bist. Ich dachte, der Marquis sei leidend. Ich hätte nie geglaubt, daß
auch nur die geringste Möglichkeit besteht, daß du für die Saison nach London
kommst.«
»Er hat
sich in letzter Zeit nicht sehr wohl gefühlt, aber er hat darauf bestanden, daß
wir nach London fahren. Ob du es glaubst oder nicht, er ist entschlossen, einen
Ehemann für mich zu finden.«
Gwen zog
die dunklen Augenbrauen hoch, die die Farbe von poliertem Mahagoni hatten. »So
oft, wie du von seinem Sohn gesprochen hast, habe ich geglaubt, daß du und der
Graf ...«
Jessie
wurde rot und blickte schnell weg. »Papa Reggie hätte das gefallen, glaube ich,
aber Matthew und ich ... wir passen nicht so recht zueinander. Außerdem hat er
vor, Lady Caroline Winston einen Heiratsantrag zu machen. Sie sind schon so gut
wie verlobt.«
Gwen
betrachtete sie eingehend. Es war schwer, vor Gwen etwas zu verbergen. »Er ist
hier in London mit dir?«
»Er hilft
Papa Reggie dabei, mich in die Gesellschaft einzuführen.«
Gwen winkte
ab, als sei Matthew Seaton nicht wichtig. »Nun, ganz sicher brauchst du seine
Hilfe nicht – ich kann mir vorstellen, daß du mindestens schon ein Dutzend
Bewerber hast. Hast du dich bereits entschieden, welchen von ihnen du haben
willst?«
Jessie
lachte. »Wenn du das sagst, klingt alles so einfach.«
»Für mich wäre es das
sicher nicht. Aber ich habe ja nie einen Ehemann
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