Stachel der Erinnerung
nun auf eine Entscheidung. Er wollte sie versorgt wissen.
Jessie
starrte auf die Blätter vor ihr. Die Schriften verschwammen
vor ihren Augen. Sie arbeitete noch anderthalb Stunden, doch mit dem Herzen war
sie nicht länger bei ihrer Arbeit, und es fiel ihr schwer, sich zu
konzentrieren. Schließlich gab sie es auf und ging zum Haus hinüber, um sich
vor ihrem Besuch bei dem Marquis noch etwas frisch zu machen. Als sie fertig
war, warf sie einen Blick auf die kleine Uhr über dem Kaminsims. Beinahe halb
drei.
Mit einem
leisen Flattern im Magen, das sie nicht mehr verlassen hatte, seit der Lakai
vor ihrer Tür gestanden hatte, ging sie schließlich durch den Flur zu den
Zimmern von Papa Reggie.
»Miss
Fox ist hier, Euer
Lordschaft, wie Ihr es gewünscht habt.« Der Kammerdiener des Marquis, Lemuel
Green, trat neben sein Bett. Er stand nun schon seit mehr als vierzig Jahren
in seinen Diensten. »Soll ich sie reinschicken?«
Reggie
seufzte. Er wünschte, er würde sich kräftig genug fühlen, um heute abend
zusammen mit Jessica zu essen. Bei einem angenehmen Abendessen wäre es
leichter, sich mit ihr über diese Angelegenheit zu unterhalten. Doch seit der
Rückkehr aus Benhamwood fühlte er sich schwach und kränklich.
»Ja,
Lemuel, bitte sie, hereinzukommen.« Er schob das Kissen in seinem Rücken
zurecht, setzte sich aufrechter hin und wedelte ein imaginäres Stäubchen von
seinem Morgenrock aus burgunderfarbener Seide. »Und öffne bitte das Fenster.
Alles in diesem Zimmer riecht nach Medizin.«
Der
grauhaarige Kammerdiener nickte, erfüllte die Wünsche seines Herrn und verließ
dann das Zimmer. Einige Augenblicke später betrat Jessie den Raum. Sie trug
heute ein puderblaues Kleid, in der gleichen Farbe wie ihre Augen. In Blau
hatte sie ihm schon immer gut gefallen.
Der Marquis
klopfte einladend auf den Stuhl neben seinem Bett, auf dem bis vor wenigen
Minuten noch sein Londoner Anwalt Wendell Corey gesessen hatte, um mit ihm
über sein Testament zu sprechen. Wendell hatte die Einladung zum Essen
abgelehnt. Jessica würde heute abend also wieder allein essen müssen. »Setz
dich, meine Liebe.«
Sie beugte
sich zu ihm und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Dann setzte sie sich und
strich ihren blauen Musselinrock gerade. »Wie fühlst du dich, Papa Reggie?«
»Gut ...
nun ja, zumindest besser. Ich bin sicher, daß ich in einem oder zwei Tagen
wieder ganz der alte und wieder auf den Beinen bin.« Wenigstens hoffte er das,
sicher war er nicht. Wenn ihm etwas zustieße, würde Jessica zurückbleiben und
für sich selbst sorgen müssen.
»Ich habe
dich hierhergebeten«, begann er das Gespräch, »weil ich heute morgen eine
weitere Nachricht vom Herzog bekommen habe.«
Jessie sah
auf ihre Hände, die sie fest im Schoß verschränkt hatte. »Ich befürchtete
schon, daß du mit mir darüber reden wolltest.«
»Du hast
mir bei mehr als einer Gelegenheit versichert, daß du den Herzog unter all den
Bewerbern am ansprechendsten fandest.«
»Ja ...
Jeremy ist ein sehr netter Mann.«
»Ich will
ganz ehrlich mit dir sein, meine Liebe. Ich hatte gehofft, in den letzten
Wochen eine Nachricht von Matthew zu bekommen. Es ist natürlich schwierig für
ihn, uns von Bord seines Schiffes eine Nachricht zu schicken. Doch wenn
Matthew etwas will, dann findet er einen Weg. Und da ich das weiß, bin ich
mittlerweile davon überzeugt, daß sich seine Pläne für die Zukunft nicht
geändert haben.«
Jessie
starrte angestrengt auf einen Fleck über seinem Kopf. »Ich habe dir doch schon
einmal gesagt, daß Matthew und ich nicht zusammenpassen.«
»Das habe
ich damals nicht geglaubt, und ich glaube es auch heute nicht. Ich denke, daß
du dir sehr viel aus meinem Sohn machst und daß er wahrscheinlich ähnliche
Gefühle für dich hegt. Aber Matthew ist kein Mann, der schnelle und unüberlegte
Entschlüsse trifft. Um es klar zu sagen – es ist nicht seine Art, von seinem
einmal gewählten Weg abzuweichen.«
Jessica
schwieg.
»Da es mein
Herzenswunsch ist, dich versorgt zu wissen, bitte ich
dich, den Heiratsantrag des jungen Herzogs anzunehmen. Ich bin überzeugt, daß
er tiefe Gefühle für dich hegt, und ich glaube sicher, daß du mit der Zeit mit
ihm glücklich werden wirst.«
Noch immer
sagte Jessie nichts. Sie blinzelte ein paarmal schnell, dann tupfte sie sich
eine Träne von der Wange. »Es tut mir leid.« Sie versuchte zu lächeln. »Frauen
weinen zu den unmöglichsten Gelegenheiten, nicht wahr?«
Er streckte
den Arm aus
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