Stachel der Erinnerung
Schwester.« Er grinste schmierig. »Du hast mehr als
genug davon. Etwas davon für deinen Bruder würde dir nicht schaden.«
»Vergiß
es.« Sie machte Anstalten, ihn stehenzulassen. Doch bei Dannys nächsten Worten
verharrte sie.
»Du wirst
mir Geld geben, Mädchen. Denn wenn du das nicht tust, wird es dir sehr leid
tun.«
Über
Jessies Körper lief eine Gänsehaut, und sie sah ihn ausdruckslos an. »Bedrohst
du mich etwa, Danny?«
Er hob in
einer dramatischen Geste die Hand. »Das würde ich doch nie tun, geliebtes
Schwesterchen. Du könntest doch wohl kaum mir einen Vorwurf machen, wenn
irgendwelche Tatsachen ans Tageslicht kämen? Zum Beispiel woher du kommst.
Daran wäre doch wohl kaum der gute alte Danny schuld, oder?«
O Gott, sie
hätte wissen müssen, daß so etwas passieren würde. Wäre sie doch nur damals
nicht auf den Jahrmarkt gegangen. Hätte er sie doch nur nicht gefunden! »Der
Marquis ist ein sehr mächtiger Mann, Danny. Er wird nicht zulassen, daß jemand
mir ein Leid antut.«
»So, wie
ich informiert bin, ist der alte Mann krank. Ein Skandal wie dieser – wenn ganz
London die Wahrheit erfährt, daß seine kostbare kleine Jessie die Tochter einer
Dirne ist – könnte ihn sehr gut frühzeitig in sein Grab bringen.«
Oh, lieber
Gott, das war die Wahrheit. Sie starrte in die braunen Augen ihres
Halbbruders. Eigentlich waren sie eher von einem merkwürdigen dunklen Gelb und
wirkten geradezu wölfisch. Ihr Magen verkrampfte sich, während sie verzweifelt
nach einem Ausweg aus ihrem Dilemma suchte.
»Also gut,
ich werde dir helfen – aber ich habe bei weitem nicht so viel Geld, wie du
glaubst. Ich kann dir alles geben, was ich gespart
habe. Auf keinen Fall kann ich den Marquis um mehr Geld bitten, denn sonst
würde er mißtrauisch werden. Du mußt dich mit dem zufriedengeben, was ich
habe.«
Danny
kratzte sich das stoppelige Kinn, das dringend nach einer Rasur verlangte. »Und
wieviel ist das?«
»Beinahe
zweihundert Pfund. Das ist alles, was ich in den letzten Jahren gespart habe.«
Er zuckte
mit den Schultern. »Ich nehme an, ich werde mich damit zufriedengeben müssen.«
Dann lächelte er sie gewinnend an. »Immerhin muß ein Mann seine Familie
ernähren können.«
Sie fragte
sich, ob er wirklich verheiratet war. Falls es stimmte, empfand sie Mitleid mit
der armen Frau. »Ich werde dir das Geld nur unter einer Bedingung geben – du
wirst auf Mamas Grab schwören, daß es das letzte Mal ist, daß du hierherkommst
– das letzte Mal, daß du mich um Geld bittest.«
Dannys
dünnes Gesicht verlor leicht die Farbe. Er hatte immer eine Schwäche für seine
Mutter gehabt. Seine Liebe zu Eliza Fox war das einzig Anständige, das Jessie
je an ihm gesehen hatte. »Sag es, Danny. Schwöre auf Mamas Grab, daß du mich
nie wieder um Geld bitten wirst.«
Er hob
beide Hände und seufzte resigniert. »Also gut, ich schwöre.«
»Auf Mamas
Grab. Sag es, Danny.«
»Auf das
Grab unserer armen toten Mutter – bist du jetzt zufrieden?«
»Warte auf
mich hinter der Gartenmauer. Ich bin gleich wieder da. Und dann möchte ich,
daß du hier verschwindest.«
Es dauerte
nicht lange, bis Jessie das Geld geholt hatte. Die Börse lag schwer in ihrer
Hand, als sie die Treppe hinunterging. Sie hatte so lange gespart ... ihre
Hände zitterten, als sie Danny das Geld reichte.
»Danke,
liebes Schwesterchen. Du hast ein gutes Herz – nicht wahr, Connie?« Sein
aalglattes Lächeln trug nicht dazu bei, Jessie zu beruhigen. Sie sah den
beiden nach, als sie davongingen. Erst als sie sie kaum mehr erkennen konnte,
entspannte sie sich ein wenig.
Matt lief
unruhig auf dem Achterdeck der Norwich hin und her. Der Wind hatte
aufgefrischt, die weißen Segel über seinem Kopf knatterten. Ein salziger Geruch
lag in der kühlen Luft, und vom unteren Deck tönten die Noten einer
Mundharmonika herauf, die ein Seemann in seiner Hängematte spielte.
Sie
ankerten vor der französischen Küste und blockierten den Hafen von Brest.
Plymouth war jetzt ihr Heimathafen. Es würde jedoch circa zwei Monate dauern,
bis sie zur Auffüllung ihrer Vorräte wieder dorthin zurückkehrten.
»Seid Ihr
bereit, mit dem Exerzieren zu beginnen, Kapitän Seaton?«
Matt blieb
stehen. »Aye, Leutnant Munsen. Ihr könnt beginnen, wann immer Ihr es für
richtig haltet.«
Der
rothaarige Leutnant, sein Unterbefehlshaber, gab umgehend das Signal. Die
fünfhundert Mann starke Besatzung der Norwich begann, glänzend
aufeinander eingespielt, mit der
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