Stachelzart
daran verschwendet, dass er vielleicht auch schuld sein könnte und mich verführen oder vergewaltigen oder sonst was wollte. Und Kay war genauso unten durch bei mir. Er hatte mich mit keinem einzigen Wort verteidigt und auch nicht versucht, die Situation zu erklären. Mir reichte es. Sollte Vera zusehen, wie sie klar kam. Scheinbar ging es ihr wieder gut. Ich würde mir jetzt etwas anderes zum Anziehen besorgen und dann Sam suchen. Ich wollte wissen, was die morgendliche Erkundung des Geländes ergeben hatte. Vielleicht konnte ich hier heute schon verschwinden.
Wortlos schob ich mich an Vera vorbei und verschwand in Sams Schlafzimmer.
„Anna, warte! Ich brauche meine Anziehsachen!“ Vera folgte mir und ließ Kay im Wohnzimmer zurück. Der lachte immer noch leise vor sich hin. So ein Vollidiot!
„Frag doch Kay!“, fauchte ich sie an, stürmte mit der Hand mein Wolldecken-Outfit festhaltend zum Kleiderschrank, schnappte mir eine Jogginghose von Sam und verschwand ins Bad. Dort schloss ich die Türe hinter mir ab, setzte mich auf den Klodeckel und heulte. Vor Scham und vor Ärger. Ich vermisste meine Wohnung und meine Ruhe und Mimi.
Komm schon, Anna, tröstete ich mich selbst. Du bist doch sonst auch nicht so eine Heulsuse. Lass dich nicht ärgern. Und das Stachel-aus-dem-Hinterteil-ziehen musst du einfach als medizinischen Notfall sehen. So etwas kann passieren.
Zumindest hatte Kay alle Stacheln entfernen können. Mein Po fühlte sich etwas wund an, schmerzte aber nicht mehr richtig. Ich schniefte und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Dann zog ich Sams Jogginghose an, knotete sie so gut es ging fest und krempelte sie an den Beinen hoch. Vielleicht hatte ich ja ausnahmsweise Glück und meine eigenen Klamotten waren schon getrocknet. Ich öffnete die Badezimmertüre einen kleinen Spalt und lugte vorsichtig hinaus. Die Luft schien rein zu sein, von Kay und Vera war nichts zu sehen. Auf Zehenspitzen schlich ich mich zur Haustüre und schlüpfte leise nach draußen. Ich hatte keine Lust einem von den beiden zu begegnen.
Die Sonne hatte meine Unterwäsche tatsächlich schon getrocknet. Mein Pullover und die Jeans waren leider noch leicht feucht. Ich nahm die Unterwäsche von der Leine und schlich wieder zurück ins Bad. Auf dem Weg warf ich einen Blick ins Wohnzimmer. Es war leer. Kay schien irgendwo draußen unterwegs zu sein und Vera hatte sich anscheinend wieder in Sams Schlafzimmer verzogen. Ich schlüpfte in die Unterwäsche, zog die Jogginghose über und machte mich auf den Weg, um Sam zu suchen.
Ich fand ihn schließlich hinter der Scheune. Er hatte die beiden Ziegen eingefangen und an einen Pflock gebunden. Nun war er damit beschäftigt, den Zaun zu reparieren.
„Hey Anna, alles wieder ok?“, begrüßte er mich und deutete auf mein Hinterteil.
„Ja, danke!“, antwortete ich.
Zum Glück ersparte er sich weitere Kommentare und zeigte auf eine Rolle Draht.
„Kannst du mir das mal anreichen?“
Ich machte einen großen Bogen um die Ziegen herum und brachte Sam den gewünschten Draht.
„Was hat eure Tour heute Morgen eigentlich ergeben? Wie schlimm ist es denn?“, hakte ich nach.
Sam zuckte betrübt mit den Schultern. „Es ist ziemlich schlimm. Der Weg ins Tal ist komplett verschüttet. Alleine kommen wir nicht nach unten. Das Freiräumen würde selbst mit den geeigneten Maschinen mehrere Tage dauern.“
Entsetzt rief ich aus: „Ja, aber was machen wir denn jetzt?“
„Wir müssen wohl oder übel abwarten. Spätestens am Donnerstag kommt das Postauto. Ich hoffe, dass der Postbote Bescheid gibt, dass wir von der Außenwelt abgeschnitten sind.“
„Und wir können niemanden erreichen? Hast du wirklich kein Telefon oder wenigstens ein Funkgerät oder so etwas?“
Sam schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Ich habe nur ein Handy, falls ich mal unterwegs bin. Aber wie du bestimmt schon gemerkt hast, funktionieren Handys hier oben nicht.“
„Und Nachbarn? Hast du keine Nachbarn mit Telefon?“, fragte ich. So schnell wollte ich die Hoffnung einfach nicht aufgeben.
„Die nächsten Nachbarn wohnen einige Kilometer entfernt im Tal. Und dort kommen wir ja nicht hin. Ansonsten gibt es oberhalb meines Hauses, ganz oben auf dem Berg nur noch eine Vogelstation. Die gehört einer Wiener Universität und wird nur von wenigen ausgewählten Forschern benutzt. Im Moment ist dort aber keiner. Und die Einrichtung ist sehr spartanisch. Eine klitzekleine Hütte mit
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