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Stadt aus Sand (German Edition)

Stadt aus Sand (German Edition)

Titel: Stadt aus Sand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierdomenico Baccalario , Enzo d'Alò , Gaston Kaboré
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die Brust heran. »Meine Kräfte lassen schnell nach.«
    »Vielleicht müssen wir etwas wagen.«
    »Sind wir denn bereit?«
    Der Griot drehte unschlüssig den Kopf. »Ich inzwischen schon. Aber das Mädchen … ich weiß nicht. Nein, ich glaube nicht.«
    »Weißt du, dass sie es nicht ist, oder glaubst du es nur?«
    »Ich glaube es. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass wir alt werden. Und merken, dass uns immer weniger Zeit bleibt.«
    »Das kann sein«, stimmte sein Bruder zu. »Und doch … du hast sie dort auch fliegen gesehen. Mit jeder Nacht kommen sie ein Stück näher. Jede Nacht ziehen sie die Kreise enger. Ich weiß nicht, wie lange es mir noch gelingt, das Dorf vor ihnen zu verbergen …«, sagte er und nahm das quadratische Instrument aus Eisen hoch, um es dann wieder auf den Boden abzulegen. »Doch es ist höchstens noch eine Frage von Monaten, wenn wir Glück haben, und von Wochen, wenn wir Pech haben.«
    »Während wir eigentlich noch Jahre brauchten, um sie auf ihre Aufgabe vorzubereiten.«
    »Jahre, die wir nicht haben.«
    »Und was haben wir dann?«
    »Nichts, außer der Tatsache, dass sie ein Mädchen ist. Deshalb könnte sie seiner Aufmerksamkeit entgehen.«
    Matuké nickte: »Das stimmt, üblicherweise sucht man nicht unter den Mädchen.«
    Die Zwillinge sahen einander lange an, als wollten sie so herausfinden, was das Richtige war. Doch obwohl sie einander bis ins Herz sehen konnten, fanden sie dort auch keine Antwort.
    »Es ist sehr gefährlich für ein so kleines Mädchen«, flüsterte der Geschichtensänger.
    »Selbst die kleinste Ameise geht das Risiko ein, nicht mehr zurückzukommen, wenn sie ihren Bau verlässt. Und trotzdem geht sie hinaus, weil sie weiß, das von ihrem Mut das Schicksal des ganzen Ameisenstamms abhängen kann.«
    »Sprichst du jetzt mit meinen Liedern, Bruder?«
    »Weil es die besten sind, die ich je gehört habe.«
    Bevor Matuké aufstand, fragte er: »Willst du mir das damit sagen? Sollen wir den Bau verlassen?«
    Dann steckte er eine Hand unter sein gelbes Gewand und band sein Gris-gris ab, ein Ledersäckchen, das er seit Jahren um den Hals trug. Er öffnete es und entnahm ihm ein durchbohrtes Stück Bernstein, in das das Gesicht eines Schakals eingeritzt war. Matuké gab es dem Bruder, der es wiederum in seinen Gris-gris steckte, zu einem Stück Bernstein mit dem Gesicht eines Falken.
    »Es fühlt sich merkwürdig an, es nicht mehr bei sich zu haben«, sagte Matuké und berührte suchend seinen Hals. »Als wäre man nackt.«
    Er beobachtete, wie sein Stein in Setukés Ledersäckchen verschwand und meinte: »Gib acht, dass du sie nicht verlierst.«
    »Gib acht, dass du sie nicht verlierst«, erwiderte der Priester.
    Sie meinten zwar nicht dasselbe und nicht dieselbe Art, etwas zu verlieren, aber trotzdem verstanden sie einander. So war es immer zwischen ihnen gewesen: eine Frage der Harmonie.
    Am Himmel wisperten die Sterne ganz leise, um sich untereinander und mit den Planeten zu verständigen, die gemächlich ihre Bahnen zogen.
    Ihren Gesang konnte man nur hören, wenn man sehr aufmerksam war, doch auch in dieser Nacht erfüllte er ihre Herzen wie schon in vielen anderen Nächten mit Gelassenheit.

DIE AMEISE
    Yatoyé, Stocksteifer Rücken, rannte durch das hohe Gras. In ihrem violett und himmelblau gemusterten Gewand sah sie aus wie eine wilde Wiesenblume, und sie bewegte sich auf ihren langen schwarzen Beinen so nervös und schnell wie eine Antilope. Sie war etwa hundert Schritt von dem imposanten Baobab am Eingang des Dorfes entfernt und nahm nun den Pfad, der steil zum Bach hinunterführte. Ihre nackten Füße wichen geschickt den Steinen aus, die aus der festgetretenen Erde hervorschauten, und dabei strichen ihre Hände liebevoll über das hohe trockene Gras.
    Langsam verschwand die Palisade des Dorfes hinter dem Rand des Abhangs. Unter dem Himmel erhob sich jetzt nur noch die mächtige Falaise aus rotschwarzem Fels, die wie ein umgedrehter Schild dalag.
    »Rokia!«, rief Yatoyé, als sie das Rauschen des Wassers hörte. Jetzt wurde der Pfad immer steiniger, das Gras wurde höher, und sie musste sich ihren Weg durch Lauchgamander und Seidenpflanzen bahnen. Als sie die großen Mangobäumen hinter sich gelassen hatte, gelangte sie endlich an das Ufer des Baches.
    Dort sah sie, wie die Frauen sich in ihren leuchtend bunten Gewändern über das Wasser beugten.
    »Rokia!«, rief Yatoyé noch einmal und hielt Ausschau nach ihrer Freundin.
    Als Rokia ihren Namen

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