Stadt aus Sand (German Edition)
niemand zu sehen.
Guter Bruder nahm seinen Kopf zwischen seine Hände und drückte ihn so fest er konnte. »Oh, warte … warte … ich kenne all diese Leute nicht … Geht weg!«
Er stützte sich an den Wänden der umstehenden Häuser ab, bevor er zu Boden ging, dabei lachte und stöhnte er abwechselnd: »Wunderbar! Ja! Nein, ich kenne sie nicht! Aber sicher! Großartig!«
Rokia näherte sich ihm vorsichtig. »Bist du sicher, dass es dir gutgeht?«
Er hielt sie weiter mit einer Geste auf Abstand, dann schlug er zweimal heftig mit dem Kopf gegen die Sandmauern an der Gasse. Schließlich blieb er so sitzen, sein gesundes Auge war geschlossen, und die Narbe über dem anderen schien sich vergrößert zu haben.
»Geister des Flusses!«, keuchte er, »was für eine tolle Seele! Die bestangelegten zweihundert Geldstücke meines Lebens!«
Rokia sammelte ein paar von den blauen Scherben auf und schnupperte an ihnen. Sie erwartete einen ähnlich stechenden Geruch wie von vergorenem Hirsebier, aber sie konnte nichts wahrnehmen. Der Verschluss des Fläschchens war ein schlichter Korken, aus dem ein paar Dornen ragten.
»War das wirklich so gut?«, fragte sie verblüfft.
Guter Bruder schien sich zu erholen. Er massierte sich die schweißbedeckte Stirn und betrachtete Rokia zum ersten Mal aufmerksam. Nun lag kein Wahnsinn mehr in seinem Blick, und er wirkte wieder normal.
»Jetzt weiß ich, wer du bist. Heute morgen. Du warst mit diesem Schlitzohr Ayad zusammen.«
»Genau. Aber sag ihm nicht, dass du mich gesehen hast, Guter Bruder.«
»Dann sag du ihm aber auch nicht, dass du mich gesehen hast«, entgegnete der Fischhändler. »Ich habe gerade bestimmt keinen schönen Anblick geboten. Was habe ich gemacht? Und was habe ich diesmal gesagt?«
»Nichts Besonderes«, entgegnete Rokia. »Du hast gesagt, dass da viele Leute wären, die du nicht kennst. Und dass es wunderbar war.«
»Ja …«, murmelte Guter Bruder nachdenklich. »Da waren wirklich viele Leute. Nur war niemand dabei, den ich kannte. Das waren Leute, die er gekannt hat.«
»Wen meinst du mit er?«
»Der Mann, dessen Seele ich gerade getrunken habe. Los: Hilf mir mal auf …«
Guter Bruder streckte ihr die Hand hin, und Rokia bemerkte zum ersten Mal, wie groß und vernarbt sie war.
Das Mädchen musste seine Fersen kräftig in den Boden stemmen, um ihn hochziehen zu können.
»Uuuuh. Danke!«, sagte er immer noch schwankend und rieb sich den Kopf, doch dann setzte er sich wieder in Bewegung.
»Warum hast du gesagt, dass du die Seele eines Mannes getrunken hast?«, fragte Rokia, die nun neben ihm lief.
»Weil ich genau das getan habe …«, sagte Guter Bruder und atmete tief durch. »Spürst du nicht, wie prickelnd heute die Luft ist?«
Rokia spürte gar nichts davon. Sie begleitete ihn zurück zum Ende des Gässchens, wo man wieder das Bimmeln der Äffchen und die Stimme des violettgekleideten Auktionators hörte.
»Ich wette, dass du nichts von all dem hier verstanden hast, stimmt's?«
Rokia biss sich auf die Lippe. »Das glaube ich auch.«
Guter Bruder redete nun etwas leiser, als ob er Angst hätte, dass man ihn hören könnte. »Jeden Monat kommt Baawa, der Seelentrödler, hier zu diesem geheimen Treffpunkt. Siehst du die Fläschchen auf dem Tisch? Das sind die Seelen, die zum Verkauf stehen.«
Rokia riss verblüfft die Augen auf.
»In jedem dieser Fläschchen ist ein Mensch, der auf einen Körper wartet. Wenn du genug Geld hast, um es dir leisten zu können, dann wird es dein: Du musst nur den Korken öffnen und es an die Lippen setzen … dann fährt die Seele in dich hinein.«
»Und was passiert dann?«
»Oh …«, flüsterte Guter Bruder. »Das ist ein unglaubliches Gefühl. Es gibt keine Worte, mit denen man es beschreiben könnte. Du fühlst all die Dinge, die diese Seele erlebt hat, und du siehst sie vor dir, als wären es deine eigenen Erinnerungen … und du fühlst dich wieder lebendig. Jung. Voller Energie. Und du spürst dieses Prickeln in der Luft.«
»Dann ist dieser Mann aber ein sehr mächtiger Zauberer!«, sagte Rokia und zeigte auf Baawa und seine Dieneräffchen.
Guter Bruder kicherte. »O nein! Er ist nur ein erbärmlicher kleiner Wurm. Er weiß nichts über die Seelen, die er verkauft, außer dem Preis, den er dafür erzielen soll. Er weiß absolut nichts, glaub mir, er ist nur ein einfacher Trödler. Das, was man ihm anbietet, sind nur Brosamen. Baawa verkauft nur den Seelenabfall, den Dreck.«
In Guter
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