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Stadt der blauen Paläste

Stadt der blauen Paläste

Titel: Stadt der blauen Paläste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: bayer
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zerrte seine Mutter von ihrem Stuhl. »Beeil dich.«
    Sie liefen die steile Treppe zu den Dachkammern hinauf. Die Türen standen offen und das Erste, was Crestina wahrnahm, war das Zerreißen von Stoff. Das gleiche Geräusch, das sie bereits am Morgen gehört hatte. Sie seufzte, ging rascher, aber sie kamen beide zu spät: Vor Bianca auf dem Boden lagen bereits die Reste von mindestens einem Kleid, einem sehr kostbaren.
    »Es ist das Kleid, das dir dein Vater kurz vor seinem Tod geschenkt hat. Du hast es geliebt«, sagte Crestina zornig.
    »Nur wenn man etwas opfert, was man liebt, hat das Opfer einen Sinn«, erklärte Bianca ruhig.
    »Und für wen opferst du dieses Kleid?«
    »Für den Messias«, sagte Bianca leise und griff erneut nach der Schere.
    »Nimm sie ihr ab!«, befahl Crestina und gab Clemens einen sanften Stoß. »Du wirst nicht noch mehr Kleider zerstören. Für eine Idee, die nicht die deine ist.«
    Clemens trat unschlüssig einen Schritt näher, Bianca lächelte ihn an.
    »Glaubt ihr im Ernst, dass ihr mich fern halten könnt von dieser Idee, die sehr wohl auch meine Idee ist, wenn ich dieses Kleid nicht zerschneide?«
    Clemens starrte seine Mutter an.
    »Ich glaube, ich sollte so bald wie möglich wieder mit einem unserer Schiffe auslaufen, nicht erst in einem Monat«, murmelte er dann vor sich hin. »Was hier geschieht, gefällt mir nicht mehr.«
    »Es muss dir auch nicht gefallen, Bruder«, sagte Bianca freundlich und streckte ihm bereitwillig die Schere entgegen, »denn es hat mit dir nicht das Geringste zu tun. Du verstehst es einfach nicht. Und unsere Mutter versteht es noch viel weniger. Genau genommen versteht sie gar nichts von uns Kindern, zumindest von denen, die noch nicht vollständig in den Fußstapfen unseres Vaters stapfen und sich dem schnöden Mammon unterworfen haben. Von Ludovico und mir.«
    Clemens wandte sich um und verließ den Raum, ohne seine Mutter noch einmal anzusehen.
    »Und?«, fragte Bianca und streckte ihrer Mutter lächelnd die Schere entgegen. »Ich wette, dass du nicht den Mut hast, sie mir abzunehmen.«
    Crestina folgte ihrem Sohn mit starrem Gesicht. Ohne Schere.

8. Das Ghetto
    Was im Ghetto geschah, schwappte in den nächsten Wochen in den Palazzo herein – durch Bianca. Sie wurde der Kurier des Messias. Alles, was sie hörte und sah, verkündete sie ihrer Familie. Meist beim Mittagessen, weil sie da sicher sein durfte, dass sie die ungestörte Aufmerksamkeit aller auf sich lenken konnte.
    »Sie bereiten jetzt Pessach vor«, sagte sie, »aber es gibt kein Purim -Fest mehr.«
    Fragte Ludovico, weshalb Purim nicht mehr gefeiert wurde, so ließ Bianca eine Suada ab, die dauerte und dauerte und ihre Mutter irgendwann vom Tisch aufstehen ließ, weil sie das Gespräch nicht mehr ertrug.
    Bianca war eine gute Berichterstatterin. Sie erzählte alles so, dass Crestina manchmal das Gefühl hatte, als sei sie es, die in diesen Zeiten im Ghetto lebte, die betete, fastete, hoffte, verzweifelt um eine Antwort rang, die der Messias geben wollte.
    Es gab keinen Zweifel, dass es in diesem Ghetto, das die Juden auch Chazer nannten, was ›Hof‹ bedeutete, brodelte. Dass Realität und Gerüchte sich in einem Maße mischten, dass niemand mehr wusste, was wirklich geschah oder was lediglich erhofft wurde. Oder vielleicht auch nur an den Rändern anklang.
    Moise war inzwischen nach Rom abgereist, was Lea zu wilden Zornesausbrüchen trieb und ganz gewiss auch zu Gebeten, die eher einem Fluch glichen denn einem Gebet: Sie wollte sie auf keinen Fall, diese Schwiegertochter. Eine Frau, die vermutlich ebenso wenig an den Messias glaubte wie Moise. Und Rom schien ohnehin kein guter Ort für Propheten zu sein, da bereits zwei von ihnen, David Reubeni und Salomon Molco, ungehört vorübergegangen waren.
    Crestina besuchte Lea von Zeit zu Zeit, aber sie hatte zunehmend den Eindruck, dass sie im Ghetto nicht mehr gern gesehen wurde in diesen Tagen. Christen überhaupt nicht. Sie hatte früher nie zuvor das Gefühl gehabt, dass sie als Beobachter betrachtet wurde. Nun hatte sie es. Als sei sie ein Spion. Und Lea schien eine Mauer um sich herumzubauen, ließ Fragen nicht mehr zu, die ihr unangenehm waren. Sie begann zu stöhnen, drückte die Hand auf ihren Fuß und schloss die Augen, wenn sie etwas nicht hören oder beantworten wollte. Sie verbrachte die meiste Zeit auf ihrer Schlafbank, gab vor, dass der gebrochene Fuß noch immer Schmerzen bereitete, obwohl der Unfall inzwischen Monate

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