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Stadt der blauen Paläste

Stadt der blauen Paläste

Titel: Stadt der blauen Paläste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: bayer
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deiner Freundin, von Diana«, sagte Moise und zeigte eine winzige Spur von Verlegenheit, sodass Lea annahm, er kenne dieses Bündel längst. »Es ist wichtig für mich«, drängte Moise, als Lea keinerlei Neigung zeigte, sich auf die Suche zu begeben. »Man muss doch wissen, was man mitnimmt, wenn man eines Tages schnell wegmuss. So, wie du damals aus diesem Salzburg.«
    »Sulzburg«, korrigierte Lea verstört. »Es war Sulzburg. Und es gab mich damals noch gar nicht. Und jetzt ist es mitten in der Nacht, und ich weiß nicht einmal, wo es ist.«
    »Aber ich weiß es«, sagte Moise freudig erregt, so, als habe er soeben einen Barren Gold in diesen ärmlichen Räumen gefunden. »Es ist unter Abrams Bank.«
    »Und sicher voller Staub«, sagte Lea entsetzt, »ich habe es jahrelang nicht mehr hervorgeholt, wozu auch?«
    Aber Moise, der sich noch nie in Leas Gesetzen über Staub zurechtgefunden hatte, war bereits in den Nebenraum gestürzt und zog ein schwarzes Wäschebündel hinter sich her, aus dem echter Staub aufwirbelte, und nicht nur jener, den Lea sich ständig einbildete.
    »Du beschmutzt dein Nachtgewand«, sagte sie vorwurfsvoll, als Moise das Bündel auffordernd vor ihr auf den Boden fallen ließ.
    »Das macht nichts«, erwiderte Moise fröhlich und summte vor sich hin.
    Lea wälzte sich ergeben wieder von ihrer Schlafbank und legte sich eine Jacke um die Schultern. »Zieh dir was an!«, befahl sie dann. »Es ist kalt.«
    Moise zog ohne Widerrede eine Jacke an und hockte sich erwartungsvoll vor Lea auf den Boden. So, als habe es in dieser Nacht nie einen Albtraum gegeben und als sei das Öffnen dieses Bündels, das Lea bei ihren zahlreichen Fluchten einst quer durch die Lande geschleppt hatte, das größte Abenteuer, das es gab.
    »Was steht auf den Zetteln?«, wollte Moise wissen, als Lea den Ballen behutsam und unter ständigem Prusten geöffnet hatte und einen Packen von Zetteln herausnahm, die eng beschrieben waren. »Was ist das?«
    »Das sind die Orte, durch die wir gegangen sind«, sagte sie dann, nahezu andächtig. »Bremgarten, Müllheim, Wolfenweiler.«
    »Wo war das?«, fragte er.
    »Überall«, erwiderte Lea ruhig. »Es war überall. Erst waren wir im Badischen, dann …«, sie schloss die Augen und murmelte vor sich hin, »… dann im Elsässischen: Rosheim, Dangoldsheim, Mittelbergheim. Dann hinunter ins Eidgenössische: Klingnau, Lenzburg, Rheineck und wieder ins Badische.«
    »Hast du das auswendig gelernt?«, wunderte sich Moise.
    »So was vergisst man nicht, auch wenn es einem später erzählt wird.«
    »Da sind noch andere Sachen«, drängte Moise ungeduldig und grub seine Finger in das Bündel.
    »Solche Sachen brauchen Zeit«, sagte Lea vorwurfsvoll. »Jedermann würde uns ohnehin für verrückt halten, wenn er uns hier, mitten in der Nacht, vor einem Bündel sitzen sehen könnte, mit dem ich einst mit meiner Familie über Land gezogen bin wie ein Landstreicher.«
    Das Nächste, was zum Vorschein kam, waren zwei geflochtene, halb abgebrannte Kerzen von einem bestimmten Sabbat abend, an den sich Lea jedoch nicht mehr erinnern konnte. »Vielleicht von meiner Bar-Mizwa«, vermutete sie. Dann eine Purim -Rätsche, die sie als Kind benutzt hatte, den Esther-Text, und, sorgfältig in einem Tuch eingewickelt, Mesusot.
    »Eine Mesusa?«, fragte Moise neugierig. »Aber weshalb fünf?«
    »Mein Großvater hatte in Sulzburg an jeder Tür eine«, erklärte Lea stolz. »Die hier war für die Tür meiner Schwester. Mein Großvater hatte den Text selber abgeschrieben.« Sie öffnete den Deckel des Glasröhrchens, zog die kleine Pergamentrolle heraus, strich über die Schrift. Eine Bewegung, die sie bereits vor Jahrzehnten nicht anders gemacht hatte. Sie nahm die nächste Mesusa und vollzog den gleichen Vorgang.
    »Es ist immer der gleiche Text«, sagte Moise ungeduldig. »Er verändert sich doch nicht.«
    Lea lächelte. »Stell dir vor, das weiß ich.«
    Moise strich Lea zärtlich über das Gesicht. »Entschuldige.«
    Dann kam der Schofar des Großvaters, dessen Horn abgewetzt war vom vielen Blasen, der Talmud, und dann eine Mappe mit Bildern. Menschen, die der Urgroßonkel einst gemalt hatte, Menschen, die keine Gesichter hatten, weil dies verboten war. Die Menschen trugen stattdessen Hüte: rote Hüte, gelbe Hüte, Hüte mit einer langen Spitze, gelbe Ringe auf der Brust, die Frauen hatten blaue Schleier.
    »Du trägst keinen«, stellte Moise fest.
    »Bei uns hier tragen nur die Männer diese roten

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