Stadt der Engel
generation«-Gruppe war in San Fernando Valley. Agnes, eine große knochige Frau um die sechzig, fuhr mich den langen Weg auf den Freeways nach Norden. Sie mußte reden. Sie mußte von ihrem Mann erzählen, einem russischen Schriftsteller, der vor der Gorbatschow-Ära als Jude aus der Sowjetunion emigriert war und den sie, Kind einer jüdischdeutschen Familie, zu ihrem unaussprechlichen Glück hier getroffen hatte. Er hatte ein stalinkritisches Buch geschrieben, das sie mir mitgab. Sie konnte seinen Tod vor drei Jahren nicht verwinden. Zornig zitierte sie einige Freundinnen, die ihr gesagt hatten, sie könne noch froh sein, daß ihr Mann gestorben sei und sie nicht wegen einer anderen Frau verlassen habe.
Wir fanden die Halle, in deren Nebenraum sich die Gruppe SECOND GENERATION traf, der Raum war viel zu groß, vielleicht vierzig Leute verteilten sich auf die vorderen Stuhlreihen. Ruth war da, darüber war ich froh, ich fühlte mich sehr fremd. Es waren nicht die gleichen Leute, die ich bei Ruth getroffen hatte, diese hier waren meistens älter. Der Leiter der Gruppe und auch der Veranstaltung war ein gutaussehender Mann Mitte vierzig, ein Arzt, sehr selbstbewußt, erfahren als Moderator. Er führte mich ein mit einer Bemerkung, die mich schockierte und die ich von mir wies: Ich sei »a lone voice out of wilderness«. Er sagte, ich sei die erste Deutsche, die sie eingeladen hätten. Er sagte, die meisten Anwesenden hätten noch nie mit einer Deutschen gesprochen. Alte Menschen der »first generation« waren kaum da, außer seiner sehr alten Mutter, einer Wienerin, die mir bei der Übersetzung helfen sollte, die aber so aufgeregt war, daß ich versuchen mußte, mit meinem undifferenzierten Englisch alleine zurechtzukommen.
Die Menschen vor mir nahmen mich ganz selbstverständlich als Vertreterin des heutigen Deutschland, sie verhörten mich über den Zustand dieses Landes, West oder Ost spielte für sie keine Rolle. Die Fragen waren scharf, ich versuchte, in meinen Antworten deutlich, aber verständnisvoll zu sein. Was ihnen jetzt aus Deutschland gemeldet wurde, bestätigte diese Menschen in dem Urteil, das sie über dieses Land gehabt hatten, mit dem sie mich identifizierten. Ich versuchte wieder, ihnen zu versichern, daß die meisten Deutschen von heute keine Antisemiten seien. Ich merkte, viele glaubten mir nicht. Insistierend bezweifelte eine jüngere, reizvolle Frau meine Beteuerungen, sie, an der mir besonders lag, konnte ich nicht überzeugen.
Am Ende kam das junge Paar zu mir, das mich gefragt hatte, ob sie es wagen könnten, mit ihrem Kind jetzt nach Deutschland zu gehen: Sie sagten mir, daß sie sich dazu entschlossen hatten. Ich war froh darüber. Wir saßen noch in einer größeren Gruppe in einem Café, ich aß Eis, konnte mich kaum an dem Gespräch beteiligen, weil ich erschöpft war und meine Englischkenntnisse mich fast vollständig verließen. Ruth verabschiedete sich besonders herzlich von mir, Agnes fuhr mich, nun schon im Dunklen, zurück. Etwas verlegen erzählte sie mir unterwegs, die junge reizvolle Frau habe unter den Teilnehmern verbreitet, ich hätte in der DDR intensiv mit dem Geheimdienst zusammengearbeitet und meine Kollegen verraten. Ein unerwarteter Schlag. Nun mußte ich also auch das noch mit Agnes besprechen.
Das Zimmer, in das ich zurückkam, war fremd. Tückisch stand meine kleine BROTHER mit aufgeklapptem Maul an der Schmalseite des langen Tisches, süchtig, leere Papierbogen in sich hineinzuziehen und sie, mit meinen Bekenntnissen beschrieben, wieder hervorzubringen, ein automatischer Vorgang, zu dem sie mich nicht mehr benötigte. Hinter meinem Rücken wurden Disketten mit geheimnisvollen Zeichen beschrieben, schon wieder war die SPEICHERKAPAZITÄT ERSCHÖPFT,und ich hatte keine Ahnung, wovon sie so erschöpft sein mochte. Schließlich war ich auch erschöpft, meldete ich der Maschine, und sie antwortete kühl: DIE SICHERUNGSDATEI WIRD GESPEICHERT BITTE WARTEN. Meine Erholungspausen wurden von meinem Wordprozessor diktiert, schon rasselte er weiter und warf aus, was ich ihm nicht eingegeben hatte, er war ein Meister der nicht nachweisbaren Fälschungen und würde es eines Tages zu verantworten haben, wenn ich das üble Spiel satt bekäme und die Produktion einstellen würde. Denn wie sollte ich mir auf Dauer die Manipulationen gefallen lassen, die er in der Tiefe seiner unergründlichen Programme mit meinen unprogrammierten, vergleichsweise harmlosen vertrauensseligen
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