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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Vorgaben anrichtete. Schon stellte er mich vor Gewissensfragen: SPEICHERN LÖSCHEN. Mach doch, was du willst, hätte ich am liebsten gesagt, und mein Zeigefinger spielte mit der verführerischen Taste. Ein sanfter Druck, und der Text wäre gelöscht. Jetzt mußte sich zeigen, was ich wirklich wollte. Ob mein Zorn und mein Ekel jenen Grad erreicht hatten, der das Objekt dieses Zorns und diesen Ekels vernichten wollte. Ich drückte die andere Taste: SPEICHERN. Triumphierend rasselnd verleibte sich mein Maschinchen eine neue Zufuhr von Zeichen ein. DAS INHALTSVERZEICHNIS DER DISKETTE WIRD EINGELESEN. Jetzt drückte ich die Taste, die den Bildschirm trügerisch leerfegte. Weiter im Text.
    Merkwürdig, daß ich mich nicht schuldig fühle, kannst du mir das erklären? Ich redete seit neuestem mit dem grauen amerikanischen Eichhörnchen, das jeden Tag über das niedrige Holzschindeldach vor meinem Fenster huschte und das ich, wenn ich an meinem Maschinchen saß, ganz nah sah. Was immer ich es auch fragen mochte, mein Eichhörnchen ließ das unberührt. Es war Februar geworden, auf einmal waren die Knospen der Bäume in der Third Street zwischen Wilshire Boulevard und California Avenue aufgebrochen, eine üppige weiße Kirschblüte mitten im Winter. Aber was hieß hier Winter.
    Mit Therese, die ich jetzt öfter sah, von der ich michinfizieren ließ mit der Sucht nach dieser Stadt, stand ich auf dem Santa Monica Pier, der sie entzückte. Ein makelloser Tag, das Meer schlug in kleinen weißschäumenden Wellen an den Strand. Die Bucht von Malibu, behauptete Therese, sei der schönste Strandbogen der Welt, ich widersprach nicht. Aber ob sie noch gar nicht bemerkt habe, daß das Wasser hier geruchlos sei? Dieser herrliche Pazifische Ozean unter uns, dieses unvergeßliche durchsichtige Grün mit dem weißen Schaumrand, schöner könnte kein Naturschauspiel sein, aber riecht es denn auch nach Meer? Nach Algen, Fisch, Wasser wie die bescheidene graue Ostsee? Therese hatte es noch nicht bemerkt, eigentlich wollte sie es nicht wahrhaben. Sie wollte mich zu ihren Freunden nach Venice führen, die mußte ich kennenlernen, aber ich mußte zuerst Venice kennenlernen, mit seinem einzigartigen Zauber, gewiß etwas überlaufen von Touristen, gewiß, die Kanäle, die das originale Venedig hatten nachahmen sollen, inzwischen zugeschüttet, gewiß, die einst romantischen Häuschen etwas verfallen, aber war das nicht gerade sein Charme? Konzentrierte sich nicht gerade hier der Geist von Kalifornien? In Venice, wo schon an Wochentagen kaum ein Durchkommen ist, wo sonntags alle schrägen und halbschrägen Typen von Los Angeles zusammenströmen, sich vorbeischieben an den Buden mit den Millionen T-Shirts, sich um die Plätze drängeln, auf denen die Darbietungen stattfinden, wir mitten unter ihnen. Wo ein dünner schwarzer Mann mit schlangenhaften Bewegungen sich unter den Zuschauerinnen seine Mitspielerinnen – oder sollte man sagen: Opfer? – zusammenholte, eine Schwarze, eine Weiße, eine Mexikanerin, eine Japanerin. Die weiße Frau wollte nicht mitmachen, sie wollte ums Verrecken nicht auf die Tanzfläche, sie war ein wenig dicklich, sie hatte einen zu kurzen Rock an für ihre unförmigen Knie, die anderen drei Frauen waren attraktiver als sie, aber der schwarze Mann kannte kein Erbarmen, er zog die weiße Frau in die Mitte, sie entschlüpfte ihm, nun wurde er ärgerlich, er hielt sie fest im Griff, ihr Freund, ein Milchgesicht, ließ sie im Stich, geniert grinsend nahm erihre Handtasche in Empfang, die der Schwarze ihm herablassend reichte, dann stellte er den Recorder an, ein Tango, der schwarze Mann nahm sich zuerst die Mexikanerin und tanzte mit ihr, er war ein Künstler, er tanzte mit jeder der Frauen nach ihrer Musik, er betanzte sie, wenn es das Wort gäbe, er ließ die Puppen tanzen, nicht daß er ihnen zu nahe trat, und doch fand auf offener Szene eine Vergewaltigung statt, die niemand ihm nachweisen, die niemand auch nur erwähnen könnte, ohne sich lächerlich zu machen, nur die schwarze Frau war ihm gewachsen und wirbelte laut lachend mit obszönen Gebärden um ihn herum, bis er sich, auch laut lachend und klatschend, damit abfand und die Abrichtung der Frau in den Tanz eines Paares verwandelte. Kläglich dagegen schnitt die weiße Frau ab, gerade weil der schwarze Mann sie betont höflich behandelte, all ihre Schwächen tanzte er gnadenlos heraus unter dem prasselnden Beifall des überwiegend farbigen Publikums.
    Der rächt sich,

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