Stadt der Engel
Kommunisten? hast du sie ungläubig gefragt. Ja, sie seien Kommunisten gewesen. Der nächste Kommunist war ein Mann aus der Nachbarschaft, ein Bierwagenfahrer, wenn du dich recht erinnertest, über den du nur Gerüchte aufschnappen konntest, die die Erwachsenen sich zuflüsterten, ja, er sei aus dem KZ zurückgekommen, aber er habe unterschreiben müssen, daß er nichts erzähle, und er sei auch wirklich stumm wie ein Fisch. Von da an prägte sich dir ein, daß es genauso schlimm war, Kommunist zu sein, wie Jude zu sein. Zum Glück traf keins von beidem auf euch zu.
Dein erster leibhaftiger Kommunist – von ihm habe ich öfter erzählt – war dann jener KZler, der, sicher zu dem Zug von Häftlingen gehörig, der vom KZ Sachsenhausen aus von der SS auf den Todesmarsch gen Norden getrieben worden war, sich zusammen mit anderen Überlebenden, von der Bewachungsmannschaft fluchtartig verlassen, unter die Flüchtlinge auf jenem Gelände gemischt hatte, das euch mit eurem Treck von der ersten Besatzungsmacht, den Amerikanern, zum Übernachten angewiesen war. Der Mann, dem deine Mutter einen TellerSuppe anbot und den sie fragte, warum er im KZ gewesen sei. Der Mann sagte: Ich bin Kommunist. Aha, sagte deine Mutter. Aber dafür kam man doch nicht ins KZ. Die Miene des Mannes blieb unbewegt. Er sagte: Wo habt ihr bloß alle gelebt.
Dein zweiter leibhaftiger Kommunist war der Schuster Sell in dem mecklenburgischen Dorf, in dem ihr nach der Flucht im Frühjahr 1945 gestrandet wart. Die russische Besatzungsmacht verlangte, daß die Bauern des Dorfes Pferdefuhrwerke für alle möglichen Transportleistungen zur Verfügung stellten, und deine Aufgabe als Hilfskraft des Bürgermeisters war es, diese Spanndienste einzuteilen – je nach Größe des Besitzes der Bauern. Da stürmte Schuster Sell, der nur ein Pferd besaß, zu dir ins Büro und beschimpfte dich: Du habest ihn und die Häusler überhaupt zu stark belastet. Empört und im Vollbesitz des Gefühls, Recht zu haben, wiesest du seine Anschuldigungen zurück, er aber tobte weiter, schlug mit der Faust auf den Tisch und warf die Tür mit Krach hinter sich zu. Der Bürgermeister, der sich bei jedem Konflikt in seinem Schlafzimmer versteckte, tauchte auf und belehrte dich, daß Sell Kommunist sei, übrigens der einzige im Dorf, und die hätten ja jetzt das Sagen.
Ich mußte meinen Erinnerungsstrom unterbrechen, um nicht zu verpassen, was Ruth aus der Kiste als Hinterlassenschaft von Lily zutage förderte. Als erstes ein Foto: Lily, in ihrem letzten Lebensjahrzehnt, an eine der Palmen im Ocean Park gelehnt, im Hintergrund das Meer. Wie immer ich sie mir vorgestellt haben mochte, mir leuchtete sofort ein: So mußte sie ausgesehen haben. Nicht groß, feingliedrig, aber kraftvoll, mit einem Gesicht, das sensibel und kühn zugleich war, mit leicht angekraustem Haar, ungebändigt, als wehe der Wind ihr ins Gesicht, und obwohl sie stand, vermittelte sie den Eindruck einer Gehenden. Einer Vorwärtsgehenden.
Ja, sagte Peter Gutman. Dann betrachtete er lange das zweite Foto, das anscheinend am gleichen Tag und am gleichen Ort aufgenommen war, nur diesmal saß Lily neben einem Mann auf einer Bank im Ocean Park. Obwohl sie sich nicht ansahen,nicht einmal berührten, gab es keinen Zweifel, daß sie ein Paar waren. Für einen Mann war er zierlich, die Hände, die auf den Knien lagen, konnten fast Frauenhände sein, sein Kopf war zu groß für diesen Körper. Die Augen verschwanden hinter dicken Brillengläsern. Keiner von uns sagte es, aber ich glaube, wir dachten es alle: Dieser Mann hatte seine Lebenssubstanz beinahe aufgebraucht.
Ruth sagte, sie habe diese Fotos gemacht. An diesen Nachmittag erinnere sie sich genau, wegen ihrer zwiespältigen Gefühle. Sie drei fühlten sich an jenem Tag besonders wohl miteinander, und zugleich überfiel sie eine Trauer, die sie nicht in Worte faßte. Es war die Trauer darüber, daß dies alles bald vorbei sein würde.
Während Ruth sprach, holte sie weitere Fundstücke aus der Kiste. Lilys Paß, ein Bündel Papiere aus ihrer Berliner Zeit, darunter ihr Diplom als Ärztin und, kaum hatte ich das zu hoffen gewagt, ein Foto von ihr und meiner Freundin Emma als sehr junge Frauen, umgeben von anderen Frauen, in ein inniges Gespräch vertieft, anscheinend während einer Tagung. Dieses Foto, das vergilbt und an den Rändern abgegriffen war, hatte Lily jahrzehntelang durch mehrere Exilländer und über den Ozean mitgenommen und gehütet.
Wie jung sie
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