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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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waren. Wie schön. Wie energiegeladen. Wie hoffnungsvoll.
    Worüber mochten sie so intensiv gesprochen haben. Über ihre unterschiedlichen Meinungen? Ruth sagte, Lily sei eine überzeugte Anarchistin gewesen. Sie habe jede Einzäunung von Ideen in ein Dogma abgelehnt, ja, verabscheut. Eine Partei, hat sie mir oft gepredigt, sagte Ruth, werde zu schnell zum Selbstzweck und ungeeignet, Veränderungen zu bewirken.
    Der Philosoph nun wieder sei ja der Ansicht gewesen, der Mensch müsse zu seinem Glück gezwungen werden. In diesem Jahrhundert, habe er gesagt, sei die Menschheit an einem Kreuzweg gewesen, zum letzten Mal habe sie wählen können zwischen zwei scheinbar entgegengesetzten Richtungen, unddann habe sich gezeigt, daß beide Wege in die Irre, in die Tragödie führten. Und daran teilzunehmen, habe der Philosoph gesagt, das war unser Leben. Na und? habe Lily ihm entgegengehalten, war es nicht aufregend? War es nicht interessant?
    Ruth holte einen grauen unscheinbaren Aktenhefter aus der Kiste, sie hielt ihn hoch. Das sei das Herzstück von Lilys Vermächtnis: Eine Diskussion, ein Austausch von Meinungen und Argumenten zwischen Lily und dem Philosophen, die sie über einen längeren Zeitraum fortgesetzt hätten, teils, um den anderen zu überzeugen, teils zur Selbstklärung.
    Das ist ja unglaublich, sagte Peter Gutman.
    Ruth übergab ihm den Aktenhefter: Er könne ihn auswerten. Peter Gutman fing sofort an, darin zu blättern. Unglaublich, sagte er immer wieder. Ich hatte ihn noch nie derart aufgeregt gesehen. So etwas passiere einem Forscher nur einmal im Leben.
    Sehen Sie, sagte Ruth freundlich. Und ausgerechnet heute und hier. Und ausgerechnet durch mich.
    In mir hatte sich das Bild vom Kreuzweg festgesetzt. Wann hatte ich erkannt, daß ich lernen mußte, ohne Alternative zu leben? In Schüben, erinnerte ich mich, so etwas lernt man nicht von heute auf morgen. Du sitzt unter Genossen, die dasselbe erleben wie du. Ihre Zahl schrumpft. Die Älteren sind euch Jungen überlegen: Sie haben Übung darin, wider alle Vernunft an einer Hoffnung festzuhalten. Sie finden, ihr hättet noch kein Recht dazu, sie aufzugeben. Das Projekt, an das sie ihr Leben gewendet hatten, sei auf die Dauer von Generationen angelegt, nicht kurzfristig auf unsere winzige Lebensspanne. Wenn ich an sie denke, sagte ich zu Peter Gutman und Ruth, an meine Freunde, die inzwischen alle gestorben sind, sehe ich einzelne Gesichter, hell aus einer dunklen Flut auftauchend, die sie gleich verschlingen wird. Der eine, den ich danach fragte, sagte: Etwas bleibt immer. Guck doch mal, in welchem Schrecken die Französische Revolution geendet hat, und was fällt einem ein, wenn man an sie denkt? Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
    Ich habe ihn nicht gefragt, sagte ich, was den Späteren einfallen wird, wenn sie an uns denken.
    Vielleicht, sagte Peter Gutman, wird man sagen, sie haben zuletzt ohne Illusionen, aber nicht ohne Erinnerung an ihre Träume gelebt. An den Wind Utopias in den Segeln ihrer Jugend.
    Dein Wort in Gottes Gehörgang, sagte ich.
    Ich stieg allein, da Peter Gutman noch in Downtown zu tun hatte, in mein rotes Auto und fuhr den Sunset Boulevard hinunter, sah die Menschenmassen, weiße, schwarze, braune, gelbe, die den Boulevard hinuntertrieben, denen fragt auch keiner nach, dachte ich, es ist das Schicksal der allermeisten, also was ficht dich an.
    Allmählich hatte ich die Scheu davor verloren, ein Teil der Blechlawine zu werden, die auf dem Straßennetz durch Los Angeles fuhr, mein kleines rotes Auto trug viel dazu bei, die Struktur des Stadtplans meinem Gehirn einzuspeichern, aber auf einmal schien etwas gar nicht zu stimmen, der Wagen kam ins Schleudern, zum Glück tauchte eine Tankstelle vor mir auf, zum Glück erreichte ich sie, der Tankwart, ein äußerst fixer Latino, stellte schnell fest, daß ich mir einen Nagel in den linken Hinterreifen eingefahren hatte, bewundernd sah ich zu, in welcher Geschwindigkeit der Mann am stehenden Auto den Schaden behob, Los Angeles ist eine Autostadt, es war für jedermann selbstverständlich, daß jedermann zu jeder Zeit ein fahrbereites Auto brauchte, thank you so much. You’re welcome, Ma’am, good luck.
    Weiter den Sunset Boulevard abwärts, auf den Ozean zu, und wehre dich nicht gegen den Strudel des Vergessenwerdens, der uns alle diesen berühmten Boulevard hinunterspült in diesen dunklen Ozean hinein.
    Mühelos fand ich die Zufahrt zu unserer Straße, zur Tiefgarage, in kühnem Bogen,

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