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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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uns auf unseren Wunsch nannte, er könne uns nicht sagen, warum diese Ureinwohner um das Jahr 1200 herum ihr Gebiet verlassen hätten. Und wohin sie gegangen seien. Die Hopi behaupteten ja, sie, die Anasazi, zählten zu ihren Vorfahren. Timothy zuckte die Achseln.
    Timothy sprach Englisch mit starkem Akzent. Er nannte Wörter aus der Navajo-Sprache. Die »kleinen Wörter« dieser Sprache seien mit den »kleinen Wörtern« der Alaska-Indianer in Kanada vergleichbar. Die großen Wörter nicht. Aber sie könnten sich miteinander verständigen. Die Anasazi hatten keine Schrift. So weiß man wenig Bestimmtes darüber, wie sie gelebt, was sie geglaubt haben.
    Eisig brach der Abend an. Wir froren. Timothy mußte uns noch das Farmland am Grund des Canyons zeigen, das seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts im Besitz der immer gleichen Familien sei und niemals verkauft würde. Sie bauten Mais und Getreide an. Und – what I don’t like, sagte Timothy, verlegen lachend – das Land gehöre den Frauen. Die vererbten es an ihre Töchter. Da müsse sich etwas ändern, fand Timothy. Und die Namen? fragte ich gespannt. Die Namen bekämen die Kinder natürlich von ihren Vätern, sagte Timothy. Ich hätte zu gerne mehr über die Überreste des Matriarchats in der patriarchalen Kultur erfahren.
    Es war irgendwann auf dieser Tour im Canyon mit seinen intensiven Rot- und Ockertönen, die kurz vor Sonnenuntergang – gegen Abend hatte der Himmel aufgeklart – noch einmal beinahe schmerzhaft aufleuchteten, mit dem jungen Grün der Bäume, daß etwas Grundlegendes sich in mir veränderte. Als wir vor unserem Motel ausstiegen, ging auch noch der Mondauf, groß und rot und aggressiv, ich mußte stehenbleiben und ihn ansehen, mich traf eine Botschaft, oder eine Einsicht, oder wie soll ich es nennen. Es war ein tiefer Atemzug. Ich war frei.
    Ja was denn sonst, sagte Angelina. Jetzt brauche ich dich aber erst recht, sagte ich. Bleib bei mir. – Okay, sagte Angelina, nicht sehr begeistert, aber warum sollte der erste Engel, den ich traf, von meinen Bitten begeistert sein. Okay, okay, mein Engel war eine schwarze Frau, die nahm mich nicht besonders wichtig, das war unleugbar, aber sie hatte zugestimmt, und Engel halten ihre Versprechen. Angelina lächelte spöttisch. Sie würde ein Auge auf mich haben. Ich sah, daß sie überanstrengt war, trotzdem war es mir nicht peinlich, sie in Anspruch zu nehmen.
    Wir gingen in das von Navajo betriebene Restaurant, wurden unfreundlich bedient, aßen Speisen, die sehr reichlich waren, aber mir nicht schmeckten. Auf einmal ging durch den Sturm draußen, der wieder zugenommen hatte, das Licht aus, die Navajo-Kellnerinnen standen in einer Ecke kichernd zusammen, lange war es dunkel und wurde immer stiller in dem Raum, in dem es vorher sehr laut gewesen war durch die Touristen, die sich hier aufführten, wie sie es sich zu Hause wohl nicht erlauben würden. Dann wurden zuerst ganz dünne, etwas später dicke Kerzen in hohen Gläsern auf die Tische verteilt, sehr romantisch, sagte Sanna, die, wie Lowis und ich, sich nicht lösen konnte von den Bildern, die wir auf unserer Tour gesehen hatten.
    Vielleicht war ich deshalb nach Amerika gekommen?
    Die Zimmer in allen Motels sind groß, alle nach dem gleichen Schema eingerichtet, drei Leute könnten mindestens in ihnen übernachten, die Betten sehr breit und sehr weich, überall die gleichen Plastikdecken über den Laken, überall der Fernseher an der gleichen Stelle, überall der gleiche etwas muffige staubige Geruch, den überall das gleiche Reinigungsmittel zu vertreiben sucht. Arizona ist ein »trockenes« Bundesland, wir setzten uns noch ein Viertelstündchen in Sannas und Lowis’ Zimmer zusammen und tranken einen Schluck von dem gutenWhiskey, den Lowis mitgenommen hatte. Die beiden waren für die gleichen Schwingungen wie ich empfänglich, das spürte ich an der Art und Weise, wie sie über die Anasazi sprachen, da war eine tiefe Anrührung, sogar etwas wie Ehrfurcht und Erschütterung.
    Fiel mir schon an jenem ersten Abend das Wort ein, das dann eine Art Wegweiser für die ganze Fahrt wurde?

EINE REISE AUF DIE ANDERE SEITE DER WIRKLICHKEIT
    EINE REISE AUF DIE ANDERE SEITE DER WIRKLICHKEIT Das Gefühl, aus der Zeit zu fahren – wie man aus seiner Haut fahren kann –, wurde immer stärker. Irgendwann kam ich auf die Formel: Traum-Reise, auch weil ich Nacht für Nacht durch die seltsamsten Träume geleitet wurde, die mich immer weniger verwunderten, die ich

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