Stadt der Engel
erbarmungslose Überlebenskampf der frühesten Menschen so tief in uns eingebrannt, daß bis in unsere Tage der Zwang zur Überlegenheit um jeden Preis alle anderen »menschlicheren« Bedürfnisse unterdrücke? Solche Fragen beschäftigten sie Tag und Nacht – sie bereite gerade eine Inszenierung eines Robert-Oppenheimer-Stückes mit Laien vor, die gäben sich nicht mit oberflächlichen Antworten zufrieden. Ich hätte auch einmal eine Arbeit über einen Atomphysiker geplant, sagte ich. Ein Filmszenarium. Ob der Name Klaus Fuchs ihnen geläufg sei. Doch. Ja. Sei er nicht der bekannte Atomspion gewesen?
Er gehörte zu einer Familie evangelischer Theologen, sagte ich, in humanistischem Geist erzogen. Als Hitler kam, mußte er Deutschland verlassen und arbeitete in England an der Entwicklung der Voraussetzungen für den Bau der Bombe. Ja, er habe sein Wissen an die sowjetische Seite weitergegeben. Er seiüberzeugt gewesen, daß die Vernichtung großer Teile der Erde nur verhindert werden könne, wen ein Gleichstand des Wissens über die Atomforschung zwischen den Blöcken herrschen würde. Er wurde, als er enttarnt war, als englischer Staatsbürger zu vierzehn Jahren Haft verurteilt, erzählte ich Sanna und Lowis, und kam 1959 nach seiner Begnadigung in die DDR, wo er stellvertretender Direktor der Atom-Versuchsanlage in Rossendorf bei Dresden wurde. Das hatten die beiden nicht gewußt.
Damals faszinierte euch der moralische Konflikt, in den er geraten war und aus dem er nur diesen Ausweg sah: Das Gleichgewicht des Schreckens zu befördern. Euer Freund, der Regisseur Konrad Wolf, wollte einen Film darüber drehen. Er mußte »höhere Stellen« bemühen, um zu Klaus Fuchs vorzudringen.
Dann standet ihr eines Tages wirklich in seinem Dresdner Arbeitszimmer. Er war ein großer, sehr schlanker Mann, zurückhaltend, fast streng. Dir fiel das Wort »preußisch« ein, und: Ein integrer Mann. Er hörte euch an. Er sagte, er habe sein Wort gegeben, daß er über diese Angelegenheit mit niemandem sprechen werde. Solange er nicht von diesem Wort entbunden sei, werde er schweigen. Damit wart ihr entlassen.
Man habe sich das ja denken können, sagte Konrad Wolf. Aber den Versuch sei es wert gewesen. Du hast den Eindruck nicht vergessen, den Klaus Fuchs auf dich gemacht hatte, und die Aura von Unnahbarkeit, die ihn umgab.
Trotzdem, sagte Sanna: Diente die Arbeit der Wissenschaftler an der Atombombe wirklich der Niederwerfung des Nationalsozialismus? Mußte ein Wissenschaftler sich nicht grundsätzlich weigern, an einer Waffe mitzuarbeiten, die letzten Endes die Menschheit vernichten konnte? Oder heiligte der Zweck die Mittel: Mußte der Wissenschaftler alles auf sich nehmen, um den Vernichtern der Menschheit in den Arm zu fallen, mit ihren eigenen schrecklichen Mitteln? Also schuldig werden in jedem Fall? Und dann noch, unvorstellbare Steigerung,gefordert zu sein, selbst die Ziele festzulegen für die Bombe, die sie gebaut hatten?
Wie Hiroshima danach aussehen würde, haben sie sich sicher nicht vorstellen können. Der Konflikt der alten Tragödien, sagte Sanna. Warum aber kommt mir der Konflikt des Orest, der Iphigenie menschlich vor, der unserer Atomphysiker aber inhuman? Ist es die ungeheure Vervollkommnung der Vernichtungsmittel? Hebt die Tatsache, daß die Existenz der Menschheit auf dem Spiel steht, diesen Konflikt in eine andere Dimension? Scheidet unsere Geschichte sich in ein Danach und ein Davor?
Lowis sagte, wenn gutwillige Menschen in eine solche Klemme gebracht werden können, dann ist die Gesellschaft krank, in der sie leben. Vielleicht todkrank.
Ich fragte mich, was du eigentlich am 6. August 1945 getan hattest. Von der Bombe jedenfalls hattest du nichts gehört, ich glaube, lange nicht. Wo ihr lebtet, in der Scheune eines mecklenburgischen Dorfes, gab es keine Zeitung, und die Radios waren von der Besatzungsmacht requiriert worden. Es war ein schöner Sommer. Du saßest im Amtszimmer eines Bürgermeisters und fülltest Bescheinigungen aus.
In meinem Zimmer im Motel nahm ich meine Reisechronik vor. Mein Maschinchen war schon über dem Ozean auf dem Weg zurück nach Europa. Ich schrieb:
es würde sich lohnen, eine geschichte der unlösbaren konflikte zu schreiben. wo müsste die beginnen? bei den griechen? jedenfalls sind unlösbare konflikte ein kennzeichen der moderne. das unglück der steinzeitmenschen, der ackerbauern war von anderer art als das der modernen menschen. sie können das pochen des gewissens
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