Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
glühte. Ich habe es gespürt. Sehr mächtig.« Ken nickte. »Der Mann hielt die Essenz in der Hand, und dann ging er.«
»Er ist einfach so hinausspaziert?«
»Niemand war so dumm, sich ihm in den Weg zu stellen«, sagte Juke.
Damit hatte er den Unterschied zwischen der Gilde und dem Orden auf den Punkt gebracht. Wenn der Mann im Umhang ins Ordenskapitel gekommen wäre, hätte er jeden einzelnen Ritter töten müssen, um ungehindert wieder verschwinden zu können.
»Nicht ihm, sondern ihr«, sagte Ivera.
Bob sah sie an. »Es war ein Mann, Iv.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es war eine Frau.«
Bob beugte sich vor. »Ich habe seine Hände gesehen. Es waren Männerhände. Der Kerl war eins fünfundneunzig groß.«
»Nein, über zwei Meter«, sagte Juke.
»Es war eine Frau«, sagte Ivera.
Ich blickte Juke an. Sie hob die Arme. »Schau mich nicht so an. Ich habe ihn nur von der Seite gesehen. Ich hatte den Eindruck, dass es ein Mann war.«
»Ken?«
Der Magier verschränkte die langen Finger ineinander, betrachtete sie eine Weile nachdenklich und hob dann wieder den Blick. »Ich weiß es nicht.«
Ich rieb mir das Gesicht. Eigentlich sollten die Aussagen von Augenzeugen den Kreis der Verdächtigen einschränken und ihn nicht erweitern.
»Danke«, sagte ich und klappte mein Notizbuch zu. Ich hatte mir angewöhnt, es mitzunehmen, weil es notwendig war. Obwohl ich mir damit blöd vorkam. Ich konnte einen kurzen Blick in einen Raum werfen und genau sagen, wie viele Menschen sich darin aufhielten, welche von ihnen gefährlich waren und welche Waffen sie bei sich hatten. Aber wenn es darum ging, Zeugen zu befragen, und ich mir keine schriftlichen Notizen machte, war alles nach wenigen Stunden wieder weg. Gene, ein Ritter und Inquisitor des Ordens und ehemaliger Detective der Polizei von Georgia, dem ich nachzueifern versuchte, weil er wusste, was er tat, und ich nicht, konnte sich ein einziges Mal mit einem Zeugen oder Verdächtigen unterhalten und seine Aussage später fast wortwörtlich wiedergeben. Ich musste mir alles aufschreiben. Ich kam mir vor, als hätte ich ein Loch im Kopf.
Es wurde Zeit, die Sache zum Abschluss zu bringen. »Im Namen des Ordens danke ich euch für die Mitarbeit und so weiter.«
Juke bedachte mich mit einem bösen Blick. Sie gab sich alle Mühe, so zu werden, wie ich in jungen Jahren gewesen war, aber obwohl sie sehr gut war, hatte ich die Ordensakademie in ihrem Alter längst verlassen. Ich könnte Juke mit links erledigen, was sie genau wusste, aber trotzdem versuchte sie es immer wieder.
»Also spielst du jetzt in der Oberliga. Als Ermittlerin für den Orden und so. Muss ich mich vor dir verbeugen?«
Ich bedachte sie mit einem flüchtigen Lächeln. »Eine Verbeugung ist nicht nötig. Aber bleibt in der Stadt und haltet euch zur Verfügung.«
Juke riss die Augen auf. »Warum? Stehen wir unter Hausarrest oder so?«
Ich lächelte weiter. Wir starrten uns noch eine Weile gegenseitig an, bis Juke auf ihre Tasse blickte und sie dann an den Mund setzte. »Du kannst mich mal.«
»Ach, Schätzchen, du weißt doch, dass das nicht meine Baustelle ist.«
»Trotzdem!«
Currans Alphatierchen-Angewohnheiten schienen auf mich abgefärbt zu haben. Curran! Warum musste ich jetzt ausgerechnet an ihn denken? Wieso gelang es mir nicht, ihn abzuschütteln?
»Er kommt«, murmelte Ivera.
Mark schlenderte durch die Menge auf mich zu, sehr adrett in einem dunkelblauen Geschäftsanzug.
Die vier apokalyptischen Reiter bedachten ihn kollektiv mit einem finsteren Blick.
Mark hatte einen Nachnamen, aber niemand erinnerte sich daran. Wenn sich jemand dazu herabließ, ihm einen Spitznamen anzuhängen, waren es für gewöhnlich Begriffe wie »kapitalistisches Arschloch« oder »dieser Mistkerl« oder, wenn der Sprecher besonders unzufrieden war, »Massa«. Wenigstens hatte er im Gegensatz zum Buchhalter noch einen Namensteil behalten.
Mark war offiziell der Geschäftsführer der Gilde, aber eigentlich hatte er mehr die Funktion eines Einsatzleiters als die eines Verwaltungschefs. Solomon Red hatte die Gilde aufgebaut und den Löwenanteil des erwirtschafteten Gewinns eingestrichen, doch es war Mark, der die alltäglichen Probleme löste. Aber durch die Art und Weise, wie er das tat, machte er sich kaum Freunde. Das Universum hatte ihn mit einem »Verständnis« erschaffen, das ständig auf null zurückgesetzt wurde. Kein Notfall, keine Tragödie, ob real oder erfunden, hinterließ auch nur die geringste
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