Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
kommen.
Kapitel 12
A ls ich zu Saiman gesagt hatte, dass ich ihn an seinen Augen erkannte, hatte ich nicht gelogen. Er betrachtete die Welt durch ein Prisma aus Intellekt, Arroganz und subtiler, selbstgefälliger Verachtung, und es gelang ihm nicht, diesen Blick zu verbergen. Ich brauchte exakt zwei Sekunden, um ihn in der mäßig gefüllten Innenhalle der Gilde anzupeilen, aber diesmal waren es nicht seine Augen, die ihn verrieten.
Heute hatte er sich entschieden, als schlanker Mann Anfang dreißig zu erscheinen. Als ich eintrat, sah ich sein Gesicht im Profil. Er führte ein zwangloses Gespräch mit Bob, Ivera, Ken und Juke, die um einen Tisch saßen. Saimans schwarze Jacke wies mit ihrem hohen Kragen und dem engen Schnitt einen leichten Mandarin-Einfluss auf. Sie betonte seine schmalen Hüften und seine gerade Schulterlinie. Dunkle Hosen schmiegten sich an seine Beine und brachten die muskulösen Schenkel zur Geltung, aber es waren die glatten, langen Muskeln eines Fechters oder Läufers, nicht die Klobigkeit eines Gewichthebers oder die Kantigkeit eines Kampfsportlers. Sein Haar in der Farbe von dunklem Erlenholz fiel ohne den leisesten Ansatz einer Locke bis zu den Hüften hinab.
Als ich mich näherte, drehte Saiman sich um und zeigte mir ein scharf umrissenes ovales Gesicht: ausgeprägtes Kinn, breite Nase mit flachem Rücken und mandelförmige Augen mit schockierend grüner Iris. Er strahlte Professionalität und Kompetenz aus. Hätte ich nicht gewusst, wer er war, und wäre ich ihm auf der Straße begegnet, hätte ich ihn für einen der hohen Magier vom hiesigen College gehalten, einen von den Leuten, die dreitausend Jahre alte Runen entziffern konnten, ein halbes Dutzend tote Sprachen beherrschten und in der Lage waren, mit einer Handbewegung einen kompletten Häuserblock einzuebnen. Er hob sich von den versammelten Söldnern ab wie ein Professor für Mediävistik in einer Bodybuilderbar.
Saiman lächelte und präsentierte gleichmäßige weiße Zähne. Er kam auf mich zu und wich dabei elegant einer großen Holztruhe aus.
»Kate«, sagte er mit seinem sanften Tenor. »Du siehst wunderbar aus. Insbesondere der Umhang hat etwas leicht Bedrohliches.«
»Ich bemühe mich, meine Umwelt vor mir zu warnen«, sagte ich.
»Gefällt dir meine professionelle Erscheinung?«, fragte Saiman. »Eine ästhetisch ansprechende Kombination aus Intelligenz und Eleganz, meinst du nicht auch?«
Schön, dass du dich selbst hinreißend findest! »Bist du Chinese, Japaner, ein halber Weißer? Ich kann es nicht genau sagen, weil deine Züge unklar sind.«
»Ich bin undurchschaubar, geheimnisvoll und intellektuell.«
Und eingebildet. Das hatte er bei seiner Aufzählung vergessen. »Hattest du zufällig Schwierigkeiten, dein Ego durch die Tür zu zwängen?«
Saiman blinzelte nicht einmal. »Nicht im Geringsten.«
»Konntest du den Zeugen mithilfe deines geheimnisvollen Intellekts schon irgendwelche Informationen entlocken?«
»Noch nicht. Sie scheinen sich im Moment nicht besonders wohlzufühlen.«
Die vier apokalyptischen Reiter machten den Eindruck, als wären sie lieber irgendwo anders als hier. Ich schaute mich in der Halle um. Von den etwa zwanzig Leuten, die ich am Vormittag angerufen hatte, waren vierzehn erschienen, einschließlich Mark, der mit säuerlicher Miene gegen die Wand gelehnt dastand. Viele vertraute Gesichter. Die Leute, die in der Gilde das Sagen hatten, waren erschienen, um Saiman und mir bei der Arbeit zuzusehen.
Ich griff unter meinen Umhang und zog eine Plastikhülle mit einem Stück Pergament hervor.
»Was ist das?«
»Ein magisches Pergament.«
Saiman nahm die Hülle mit langen, schlanken Fingern entgegen, hielt das Pergament ins Licht und runzelte die Stirn. »Leer. Du hast meine Neugier geweckt.«
Ich zog einen Zettel aus der Tasche. »Das ist die Liste der Tests, mit denen die PAD das Pergament untersucht hat.«
Saiman überflog die Liste. Ein feines Lächeln verzog seine Lippen. »Amüsant. Vierundzwanzig Stunden. Dann werde ich dir entweder sagen, was darauf geschrieben steht, oder dir jemanden nennen, der es lesen kann.« Er steckte das Pergament in die Innentasche seiner Jacke. »Wollen wir anfangen?«
Ich wandte mich den Söldnern zu. »Wir brauchen fünf Freiwillige. Meldet euch nur, wenn ihr euch diesen Kerl gründlich angesehen habt.«
Bob hob die Hand. »Wir vier sind dabei.«
»Ich brauche noch einen«, sagte ich.
Mark trat vor. »Ich bin dabei.«
Juke rümpfte ihre
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