Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
»alles oder nichts« in Wirklichkeit bedeutete. Trotzdem sehnte ich mich danach, diese Bedenken in den Wind zu schlagen und ihm in die Festung zu folgen. Wann hatte ich mein Herz so sehr an diesen arroganten Mistkerl gehängt? Es war nicht letzte Nacht gewesen. War es, weil er mich so oft vor mir selbst gerettet hatte? Zumindest wusste ich, wann es angefangen hatte – als er versucht hatte, um den Deckel zu verhandeln, den die Horde Meeresdämonen im Austausch gegen Julies Leben haben wollte.
Ich wäre bereit zu töten, um bei ihm zu bleiben. Dieser Gedanke war mir selbst unheimlich.
Die Temperaturen setzten ihren Sturz ins Bodenlose fort. Trotz der vielen Stoffschichten spürte ich meine Arme kaum noch, und meine Beine waren hartgefroren. Grendel und Marigold schien es nichts auszumachen, aber sie waren auch den ganzen Weg gelaufen.
Der Tempel wurde auf drei Seiten von einem niedrigen Ziegelsteingebäude und auf der vierten von einem Zaun eingegrenzt und wirkte vor dem Hintergrund der öden Ruinenlandschaft beinahe fröhlich. Hellrote Wände, ein schneeweißer Säulengang und genauso weiße Stufen ragten inmitten eines verschneiten Rasens empor. Nur wenige Meter links davon lauerte die Unicorn Lane, ein Bereich intensiver aggressiver Magie, der sich wie eine Narbe durch die verwüstete Innenstadt fraß. Dort verbargen sich Dinge, die das Licht scheuten und von Monstern lebten. Wer sich verzweifelt in diese Zone flüchtete, wurde von der PAD und vom Orden abgeschrieben. Eine weitere Verfolgung hätte einfach keinen Sinn gemacht.
Die Unicorn Lane verlief pfeilgerade bis zum Tempelgelände, wo sie einen vorsichtigen Bogen um die Synagoge machte. Mezuzot, Verse aus der Torah, von einem Gelehrten geschrieben und von Zinngefäßen geschützt, hingen entlang der Tempelwand. Die ganze Wand war mit unzähligen Engelsnamen, magischen Quadraten und heiligen Formeln übersät, als hätte man eine Enzyklopädie der Zaubersprüche darüber ausgeschüttet.
Vier Golems bewachten das Gelände, zwei Meter groß und rot wie Georgia-Ton. Die unförmigen Monstrositäten aus der Zeit unmittelbar nach der Wende gab es nicht mehr. Diese Jungs waren von einem Bildhauermeister erschaffen und von einem erfahrenen Magier animiert worden. Jeder besaß den muskelbepackten Oberkörper eines kräftigen Mannes und einen großen bärtigen Kopf. An der Taille ging der Körper nahtlos in den eines stämmigen Tieres über, das an einen Widder mit vier kräftigen Beinen erinnerte, die in Hufen endeten. Die Golems stapften mit langen stählernen Speeren vor und zurück und blickten mit Augen, die in einem wässrigen Pink leuchteten, in die Welt hinaus. Sie beachteten mich überhaupt nicht. Im Ernstfall wäre es schwierig gewesen, sie zu töten. Sie wurden durch ein einziges Wort beseelt – emet , Wahrheit – , das ihnen in die Stirn graviert war. Wenn man den ersten Buchstaben auslöschte, wurde emet zu met , Tod. Das wäre das Ende des Golems. Wenn ich nach ihren langsamen Bewegungen ging, könnte ich hineinstürmen, den Buchstaben ausradieren und mich aus dem Staub machen, bevor sie ihre Riesenspeere auch nur heben konnten.
Jeder hatte seine eigene Methode der magischen Manipulation. Hexen brauten ihren Kräutertrank, das Volk navigierte Vampire, und Rabbis schrieben. Der sicherste Weg, einen jüdischen Magier zu entwaffnen , bestand darin, ihm seine Schreibfeder wegzunehmen.
Als ich näher kam, trat eine Frau aus dem Tempel und stieg die Treppe hinunter. Ich band Marigolds Zügel an eine Stange, die am Zaun angeschweißt war, und lief zur Treppe hinüber.
Die Frau war klein und auf eine fröhliche Art füllig. »Ich bin Rabbi Melissa Snowdoll.«
»Kate Daniels. Das ist mein Pudel.«
»Meines Wissen haben Sie eine Verabredung mit Rabbi Kranz. Ich werde Sie zu ihm führen, aber ich fürchte, der Pudel muss draußen warten.«
Der Kampfpudel war von dieser Idee nicht begeistert, und die Kette gefiel ihm noch viel weniger. Aber nachdem ich ihn einmal angeknurrt hatte, entschied er, dass es das Beste für ihn wäre, sich nicht aufzuregen.
Rabbi Melissa hob eine Hand und trat vor. Ein blasser Lichtschein umspielte die Finger der Frau und regnete wie ein Wasserfall herab, als sich der Schutzzauber des Tempels öffnete und mich einließ.
»Folgen Sie mir bitte.«
Sie führte mich hinein. Wir kamen an den offenen Türen zum Allerheiligsten vorbei. Durch riesige Bogenfenster fiel Tageslicht auf die Reihen cremefarbener Bänke, die mit
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