Stadt der Liebe
Sankt Martin.
Es war gleich neben dem Tor, der Straße zugewandt, in die Steine eingelassen und zeigte einen Reiter, der mit dem Schwert seinen Mantel zerhieb. Ein prächtiges Kunstwerk, fürwahr! Und es hatte viele Bewunderer, selbst aus Paris, gefunden. Denn schließlich: Hatte es nicht der berühmte Rimbaud mit eigener Hand geschnitzt und bemalt, derselbe Rimbaud, der auch die Kirchen der Hauptstadt mit seinen Altarbildern schmückte? Und Michel Dumont – einen ganzen Beutel Goldfranken hatte er bezahlt, um den Heiligen Martin an die Mauer zu bekommen.
Da ritt er nun und wurde, zur höchsten Zufriedenheit von Maître Dumont, von allen bewundert. Schon das herrliche blaue Tuch mit dem Goldsaum! Sah es nicht aus wie Brokat?
Und den Brokat zerschnitt der Heilige, um einen Frierenden damit zu bedecken?
Nun war Dumont alles andere als ein Heiliger, aber es gefiel ihm, mit dem Erwerb dieses Reliefs die Vorstellung anzureichern, die er von sich selbst entwickelt hatte.
Zwar war er nicht so schlank wie der Reiter, das gewiß nicht. Dafür aß er nun mal viel zu gerne. Andere sagten, er fresse, denn wenn er aß, dann kannte er keine Grenzen. Und mit dem Trinken verhielt es sich nicht sehr viel anders. Doch ein Bauch, der ziert den wahren Mann! Dies zum einen. Zum andern aber – hatte er sich nicht sein Leben lang als ein wahrer Mäcenas bewährt und den Mantel seines Wohlwollens geteilt, beschützte und wärmte seine Fürsorge nicht viele Arme und Hungernde, vor allem wenn sie zum weiblichen Teil des Menschengeschlechts gehörten und hübsch und jung waren?
So wie Jeanette Mellier zum Beispiel …
Gerade war sie atemlos und zitternd vor Furcht um das Leben ihres Geliebten am Tor des Patrons angelangt.
Ihre Hand umkrampfte einen kleinen Beutel. Der aber enthielt nur Kupfermünzen, gerade eine Handvoll und war doch alles, was sie noch an Barem besaß.
Ganz gegen ihre Gewohnheit warf sie einen Blick auf den behelmten Heiligen, der wie immer das Tuch zersäbelte.
Jeanette überlegte sich ein Stoßgebet. Nichts rechtes wollte ihr einfallen, nichts rechtes, nur das ewig gleiche: Heiliger Jesus, laß Dumont zu Hause sein! Aber das muß er schließlich … Ist ja krank … Und wehe, wenn er dir keinen Vorschuß gibt oder wenigstens deinen Restlohn rausrückt … Was dann? O Gott! … Sie hatte es bereits auf dem ganzen Weg vor sich hergebetet. Sie lief durchs Tor.
»He, Jeanette! Was ist denn los mit dir?«
Ja, was nur? Selbst den jungen, kräftigen, blonden Kerl, der da am Tor lümmelte, hatte sie übersehen. Und das war nun wirklich nicht einfach, denn Blaise, ein fröhlicher Gascogner, der bei Dumont den Dienst des Kutschers versah, war himmellang. Bis heute hatte sie ihm nicht einbleuen können, daß es nichts nutzte, mit ihr zu kokettieren. Aber das tat er wohl mit allen Frauen.
»Der Alte«, sagte sie, »ist er da?«
»Natürlich ist er da. Der leidet. Wieso denn?«
»Das braucht dich nichts anzugehen.«
Sie blieb stehen. Sie hatte den Planwagen entdeckt, der gerade mit Tuch beladen wurde.
»Fährst du weg?«
»Ein kleiner Ausflug nach Paris. Komm mit! Was hältst du davon?«
Auch dafür hatte sie keine Reaktion. Und schon gar keine Antwort. Sie rannte los.
»Er sitzt auf der hinteren Terrasse!« schrie ihr Blaise nach. »Geh rauf. Er wird sich freuen. Zumal er dich schon zwei Tage nicht mehr gesehen hat.«
Michel Dumont. Meister Michel Dumont. Michel Dumont – Rats- und Standesherr, Kirchenbeirat in Neuilly, Kaufherr vor allem, einen Dumont kennt man bis hinauf nach Brabant, ja bis hinüber in die Weber-Kontore von Manchester in England, bis hinunter ins ferne Genua, wo sie die Tuche der Lombardei und die Seide aus dem fernen China verschiffen. Dumont, zwei Zentner sattes Fleisch, die Augen wie Schießschartenschlitze ins speckstarre Gesicht geschnitten. Und das waren Augen, in denen ein Licht funkelt, wie in den Augen einer beutelüsternen Pestratte, die auf der Lauer liegt – doch manchmal öffnen sich die Augen in dem runden Gesicht plötzlich und überraschend wie dunkle Pfützen bei Regen.
Jetzt zum Beispiel.
Jetzt, als Jeanette Mellier hinter den Geißblattranken im Garten auftauchte.
Den Hof hatte sie überquert. Zunächst das bucklige Pflaster mit den von ungezählten Wagenrädern in den Stein geschnittenen Fahrrinnen. Uralt, so wie die Grundmauern, die den großen, spitzgiebligen Fachwerkbau in der Rue Saint Martin trugen. Sie stammten noch aus den Zeiten der alten Kapetinger-Könige,
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