Stadt der Lügen
muss mit dir reden. Aber so geht es nicht.«
»Was geht nicht? Kannst du nicht einfach die Wahrheit sagen?«
»Nein Artie, das kann ich nicht.«
»Scheiße. In zwanzig Minuten bin ich bei dir.«
Es waren die längsten zwanzig Minuten Fahrt, die Artie je erlebt hatte, zumal die Straßen von Santa Monica von Burton Way bis Wilshire so gnadenlos verstopft waren, dass eine noch viel längere halbe Stunde daraus wurde. Er rief noch einmal an, um zu bestätigen, dass er sich auf dem Weg befand, versuchte es anschließend erneut bei Molly und hinterließ eine weitere Nachricht.
Endlich stand er in Joes Büro im vierzigsten Stockwerk eines Wolkenkratzers in Century City. Die schweren Möbel in dem mit dunklem Holz getäfelten Zimmer bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu den raumhohen Fenstern auf beiden Seiten. Man kam sich vor, als befände man sich gleichzeitig in einem altmodischen Country-Club und einem Aquarium.
»Möchtest du etwas trinken? Oder vielleicht eine Tasse Kaffee?«
»Ich will nur mit dir reden, Joe. Deswegen bin ich hier.«
Joe war gepflegt, nur wenig mehr als mittelgroß und hatte dichtes, dunkles, an den Schläfen langsam ergrauendes Haar. Seit dem Krebstod seiner Frau vor zwei Jahren hatte er ein wenig abgenommen und sah jünger aus als sechsundfünfzig.
»Ganz ehrlich, Artie, es war das Schrecklichste, was mir seit Anne-Maries Diagnose passiert ist. Molly rief mich völlig aufgelöst an und sagte, sie hätte von Jack Leonard erfahren, dass du nur noch zwei, maximal drei Monate zu leben hättest. Das war letzten Freitag, ein paar Tage nach deiner Vorsorgeuntersuchung. Du hattest gerade das Drehbuch zu Seitensprünge im Studio abgegeben, um es während des Wochenendes lesen zu lassen. Molly und ich haben alles besprochen, dann rief ich Ned Ross an.«
»Mein Gott!« Artie stöhnte leise auf – fast war es nur ein Flüstern –, als er erkannte, was kommen würde.
»Wenn ihm das Buch gefallen hätte, umso besser. Wenn nicht, dann ging es allenfalls darum, das Spiel für eine kurze Zeit durchzuhalten. Was hätte es auch geschadet? Und Ned war dir schon längst etwas schuldig.«
Artie saß auf der Kante eines tiefen Sofas. Er verbarg das Gesicht in den Händen. »Was ist mit Lars Hanssen? Und Greg Warren?«
»Jeder Mensch hat so seine Gründe. Du hast wohl einem sehr engen Freund von Greg früher einmal einen großen Gefallen getan. Was Lars angeht … keine Ahnung. Vielleicht schuldete er Ned etwas.«
»O Gott«, entfuhr es Artie erneut. Dieses Mal war es kaum zu hören. Er blickte Joe an. »Was ist mit meinen Kindern? Hast du mit Steven und Jane gesprochen?«
»Steven habe ich in Boston erreicht. Jane war mit dem Orchester auf Tournee, aber er hat sie ausfindig machen können. Sie sagten, ihnen sei alles recht, was wir beschließen.«
Das musste Artie erst einmal verdauen. Ihnen war also alles Recht, was ihre Stiefmutter und irgendein Anwalt beschlossen. Das Einzige, was Artie dazu einfiel, war die Frage, ob er ein besserer Vater hätte sein können. Eigentlich schon, dachte er, aber wie? Er wusste nur, dass er es hätte sein sollen.
»Und was sollte geschehen, wenn die Krankheit ausgebrochen wäre?«, fragte er mit unsicherer Stimme. »Was hätte ihr gesagt? ›He, Artie, so ein Ärger – ausgerechnet jetzt zu sterben, wo du doch gerade eine Glückssträhne hast‹?«
»Du hättest nie erfahren, wie krank du gewesen wärst. Jack Leonard hat uns erklärt, dass man innerhalb weniger Tage stirbt, wenn die Sache richtig losgeht. Er und Molly hatten vereinbart, dich ins Krankenhaus zu bringen und dich glauben zu lassen, du hättest einen Virus. Du hättest die Wahrheit nie erfahren.«
Artie schwieg. Schließlich fragte er: »Sag mal, Joe, gibt es kein Gesetz, das Ärzte verpflichtet, ihren Patienten die Wahrheit zu sagen?«
»Sie haben es getan, weil sie dich lieben, Artie. Wir alle haben es deshalb getan.«
»GIBT ES NICHT IRGENDEIN SCHEISS-GESETZ?«, brüllte Artie.
»Nein Artie. Ein solches Gesetz gibt es nicht.«
»DANN SOLLTE EINS GEMACHT WERDEN, VERDAMMT NOCH MAL!«
Er riss die Tür genau in dem Augenblick auf, als ein junger Assistent anklopfte. Dieser hatte sich Sorgen wegen des Lärms gemacht und wollte nachsehen, ob er helfen konnte. Artie stieß ihn beiseite und stürmte ins Vorzimmer. Joe lief hinter ihm her und rief: »Artie, warte! Es gibt da noch etwas! Wir müssen reden!«
Doch Artie war bereits fort. Um dem Verkehrschaos zu entgehen, fuhr er kreuz und quer durch
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