Stadt der Lügen
herum. »Sicher wusste sie es. Sie war die Erste, die es erfahren hat, nachdem ich die Diagnose bekommen habe.«
»Warum hat mir niemand etwas gesagt?«
»Ganz ehrlich, Artie, die Prognose war so schlecht, dass wir uns bewusst dazu entschlossen haben. Innerhalb von vier bis fünf Wochen hätten Sie dramatisch abgenommen und nach zwei Monaten hätten Sie im Koma gelegen. Es gibt Krebsarten, die nur sehr langsam fortschreiten, es gibt aber auch schnelle. Dieser tötet blitzschnell. Wir haben uns überlegt, dass Sie es erst erfahren sollten, wenn Sie sich wirklich krank fühlten.«
Artie schwieg eine Zeit lang. »Arme Molly«, sagte er irgendwann. »Kein Wunder, dass sie Schlaftabletten gebraucht hat. Schrecklich, mit einem solchen Wissen leben zu müssen.«
Dr. Leonard blickte zu ihm hinüber. »Ich hoffe, Sie sind uns nicht böse, Artie. Sie hat lange und ausführlich darüber nachgedacht, ehe sie sich entschloss, nichts zu sagen.«
»Nein, ich bin nicht böse.« Er lehnte sich in das weiche, duftende Leder und seufzte tief. »Du liebe Zeit, es wäre auch wirklich nicht der richtige Zeitpunkt zum Sterben gewesen«, sagte er. »Gerade, wenn zum ersten Mal im Leben alles so richtig schön rund läuft. Wie finden Sie das?«
»Es wäre wirklich gemein gewesen«, stimmte Dr. Leonard zu.
»Verdammt noch mal«, schnaufte Artie. Plötzlich erstarrte er. »Sagen Sie, Sie glauben doch wirklich, dass ich diese Krankheit nicht habe, oder?«
»Es ist so gut wie unmöglich«, sagte Jack Leonard mit der entschlossenen Endgültigkeit des Arztes. »Wie ich schon sagte, Artie: Diese Untersuchung dient nur dazu, alles richtig zu stellen.«
Eine Stunde später war alles vorüber. Artie war für kerngesund erklärt worden; seine unmittelbare Zukunft litt noch nicht unter dem Schatten des Todes.
Als Erstes rief er Molly beim Frisör an, doch man sagte ihm, er habe sie um wenige Minuten verpasst. Er hinterließ ihr eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu Hause, kurz und knapp und mit einer Liebeserklärung an sie. Dann fiel ihm ein, dass auch Kelly vielleicht von seiner Krankheit erfahren hatte und außerdem möglicherweise wusste, wo ihre Mutter steckte. Er rief bei ihr an.
Kelly weinte vor Freude, als sie von Arties Gnadenfrist erfuhr. Die Aufrichtigkeit ihrer Gefühle für ihn berührte Artie tief. Er musste an seine eigenen Kinder denken. Merkwürdigerweise waren sie ihm bisher überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Hatten sie es gewusst? Hatten sie sich Sorgen gemacht?
Aber wieso sollten sie? Schließlich war er der schlechte Kerl, der ihre Mutter verlassen und dazu gebracht hatte, einen Banker von der Wallstreet zu heiraten, bei dem sie in echtem Luxus aufgewachsen waren. Was bedeutete es ihnen schon, ob ihr biologischer Vater lebte oder starb? Er schob den Gedanken an sie weg und konzentrierte sich auf sein eigenes Leben: Arthur J. Fleischman, der sowohl in beruflicher als auch in persönlicher Hinsicht von den Toten auferstanden war.
Er nahm ein Taxi nach Hause und holte sein Auto. Auf dem Weg ins Büro rief er Caspar Grenville an, um sich dafür zu entschuldigen, dass er ihn versetzt hatte. Caspar war nicht daheim. Artie bat seine Frau, ihm zu sagen, dass er später erklären würde, was geschehen war. Er wusste, Caspar würde ihn verstehen.
Im Büro zwang er sich, seine Aufmerksamkeit auf die Vorbereitung der Produktion zu richten. Er überprüfte die Verfügbarkeit technischer Einrichtungen und stellte ein vorläufiges Budget auf, das zur Herstellung des Films ohne die Gagen von Schauspielern, Regisseur und Dramaturgen nötig wäre. Mehrere Male versuchte er, Molly zu erreichen, aber sie war immer noch nicht da. Und dann, aus einer Laune heraus, rief er Ned Ross an.
Ned hob fast sofort ab. Für Artie war es immer noch ein Grund zur Freude, wie schnell und ohne großes Aufheben er zu einem Studioboss durchgestellt werden konnte. »Wie geht’s, wie steht’s, alter Knabe?«, erklang Neds fröhliche Stimme in der Leitung. »Mensch, ist das nicht toll mit Greg Warren? Er läuft überall herum und erzählt, er fände den Film so hervorragend, dass er ihn auch ohne Gage drehen würde. Ich habe ihm erklärt, ich ginge gerne darauf ein – sein Agent wird sich ganz schön umgucken!« Ned lachte schallend über seinen eigenen Witz. Artie fiel ein. Dann räusperte er sich und wurde ernst.
»Hör mal, Ned, ich wollte dir etwas erzählen, ehe die Gerüchteküche überkocht – du weißt ja, wie das in diesem
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