Stadt der Lügen
brauchen.«
»Und dann hast du diesen ganzen Mist inszeniert, damit der arme Kerl glücklich und in Frieden sterben kann. Na toll!« Artie wandte sich kopfschüttelnd ab. »Du musst ja richtig aufgeatmet haben. Niemand ist traurig, du tust niemandem weh – und übrig bleibt eine glückliche Leiche auf dem Friedhof.«
In diesem Augenblick sah er den Mann, der genau dort an der Wohnzimmertür stand, wo er selbst noch vor wenigen Minuten gestanden hatte. Er hatte weder ein Auto vorfahren noch die Eingangstür gehört. Es war Joe Cross.
»Was zum Teufel willst du hier, Joe?« Arties Stimme klang müde. »Geh heim. Das hier ist eine Privatangelegenheit, okay?«
Der Rest passierte mit drei Blicken, drei kleinen Augenbewegungen, die eine Welt zerstörten und neu entstehen ließen. Joe sah an Artie vorbei Molly an. Auch Artie blickte sie an. Ihre Augen aber ruhten auf Joe.
»O nein …!« Es war mehr ein Ächzen. Arties Beine gaben nach, aber er wollte sich nicht setzen. Er lehnte sich an den Türrahmen und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte sich nichts verändert. »Wie lange geht das schon so? Seit Anne-Marie tot ist, oder schon länger?«
»Anne-Marie war schon lange tot. Ein halbes Jahr oder sogar noch länger. Vorher ist nichts passiert.« In Joes Stimme lag rechtschaffene Entrüstung, über die Artie trotz allem lächeln musste. Zumindest glaubte er zu lächeln. Er hatte keine Vorstellung, wie sein Gesicht dabei aussah.
Die beiden sahen ihn an und warteten auf eine Reaktion. Der Gedanke schnitt wie ein Messer in sein Gehirn. Himmel, dachte er, sie sollen ihre Reaktion haben. Ich werde dafür sorgen, dass sie sich an mich erinnern.
Er stieß sich von der Wand ab, schoss durch den Raum und verschwand mit verblüffender Geschwindigkeit in seinem Arbeitszimmer. Sie hörten, wie er hinter sich abschloss.
Joe blickte Molly an. Sie erkannte Furcht in seinem Gesicht. »Besitzt er eine Pistole?«, fragte er.
»Ich weiß nicht. Doch, ich glaube, er hat eine. Zumindest war früher eine im Haus.«
Einen Augenblick lang schien Joe unentschlossen. »Hör zu«, sagte er schließlich, »ich glaube, du solltest besser hier verschwinden. Nimm deine Tasche und warte in meinem Auto.«
»Ich lasse dich auf keinen Fall allein«, erklärte sie entschlossen.
»Bitte, Molly. Er könnte gefährlich sein. Es wäre besser für dich, nicht zu bleiben.«
»Und was willst du tun?«
»Ich werde mit ihm reden. Hol deine Tasche.«
»Ich bleibe hier.«
Joe atmete scharf ein, erwiderte aber nichts. Es wäre sinnlos gewesen. Er überlegte, ob es besser war, mit Molly zu verschwinden oder an die Arbeitszimmertür zu klopfen und zu versuchen, mit Artie zu sprechen. Er trat einen Schritt auf die Tür zu.
In diesem Augenblick wurde sie von innen aufgerissen. Mit wildem Blick stand Artie vor ihnen. In der Hand hielt er eine Pistole.
»Artie … Artie, reiß dich zusammen …« Joes Stimme zitterte ebenso sehr wie die Hand, die er abwehrend vor sich hielt. »Gewalt ist keine Lösung, Artie. Niemand hat gewollt, dass das hier passiert, aber es ist nun einmal geschehen.«
Artie schaute von Joe zu Molly und wieder zurück. Dabei richtete er die Pistole immer auf denjenigen, den er gerade nicht ansah. »Raus hier«, sagte er. »Alle beide.«
Sie wechselten einen Blick. »Komm«, sagte Joe.
Molly zögerte. Sie wandte sich zum Schlafzimmer, wo ihr Koffer noch immer halb gepackt auf dem Bett lag.
»Später«, zischte Joe teils ängstlich, teil verärgert. Er hielt ihr die Hand hin. Sie nahm sie. Gemeinsam gingen sie zur Tür. Artie sah ihnen nach und fühlte sich unwiderstehlich an ein Lied aus Kinderzeiten erinnert: ›Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald, es war so finster und auch so bitter kalt …‹ Unwillkürlich musste er lachen. »Halt!«, kommandierte er.
Sie drehten sich um und sahen, dass er mit ausgestrecktem Arm die Waffe auf sie richtete. Molly schien sich mit der Situation abzufinden. Sie gab nach und wurde passiv. In ihren Augen standen keine Fragen mehr.
Doch Joe bekam es mit der nackten Angst zu tun. Seine Stimme klang schrill. Schweiß perlte auf seiner Stirn. »Artie, um Himmels willen! Mach keinen Quatsch. Bitte Artie, mach keinen Quatsch!«
Sehr langsam senkte Artie die Waffe und sicherte sie. Er hatte sowieso nicht schießen wollen. Warum sollte er auch? Was hätte sich damit verändert? Doch er hatte bis zum Äußersten gehen müssen. Er brauchte das Wissen, bis zum Äußersten gegangen zu
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