Stadt der Lügen
daran geglaubt – genau wie Sie oder ich nicht daran glauben würden, wenn jemand beim Mittagessen zu uns käme und uns erklärte, wir wären tot. Wir würden die Vorstellung sofort ins Reich der Fantasie verweisen – sie allenfalls als Metapher verstehen.
Also lebte er. Aber wo? Und in welcher Form?
Er war ein Gedanke, ein lebendiger Gedanke, der sich irgendwo zwischen meinem Kopf und der Welt, in die er eigentlich gehörte, verfangen hatte. Es gab keinen Schauspieler mehr, der ihm hätte Leben verleihen können; nur ich war noch da. Er lebte in mir, wie er einst in Alan Kemp gelebt hatte. Und wie er in den Köpfen von Millionen Menschen herumspukte, die ihn Woche für Woche im Fernsehen sahen.
Er schien eine Art Frankenstein zu sein, der in den Köpfen der Leute lebte. In ihrer Vorstellung. Denn dort lag die Welt jeder erfundenen Figur, dort fand sie die Luft, die sie zum Atmen brauchte.
Doch Clay war aus dieser Welt verbannt worden, und er machte mich dafür verantwortlich. Wenn ich ihm nicht helfen würde, wieder hineinzufinden …
Es gab kein »Wenn«. Ich musste es tun. Ich hatte viel zu viel Angst, nicht zu handeln.
Aber wie? Wie konnte ich ihn aus meinem Kopf hinaus in die Köpfe anderer Leute treiben?
Für das Fernsehen war es zu spät. Diesen Weg konnte er nicht mehr gehen – endgültig nicht mehr. Doch wie sollte ich ihn aus der Enge seines derzeitigen Gefängnisses befreien und ihm die Freiheit seines natürlichen Publikums und der Welt draußen wieder zugänglich machen? Sodass er, wie ich aufrichtig hoffte, mich endlich in Ruhe lassen würde?
Und plötzlich fiel mir die Lösung ein. Die Antwort lag in meinen Fingerspitzen. Natürlich würde es Zeit brauchen, und es gab auch keine Garantie. Ganz sicher würde er auch nicht so viele Menschen erreichen, wie er es vom Fernsehen her gewohnt war. Aber selbst eine Hand voll war besser als nichts.
Mit etwas Glück würde er sich nach und nach wie ein Virus ausbreiten und mich ganz langsam verlassen.
Hier lag meine einzige Hoffnung.
Wie gesagt, die Antwort lag in meinen Fingerspitzen.
Und jetzt liegt sie in Ihren Händen.
Heimlicher Ruhm
»Muss ich erklären, was ein feuchter Abgang ist?«
»Hm … nein.«
»Es gibt nur zwei Sorten Menschen – wusstest du das? Die einen wissen, was ein feuchter Abgang ist, und die anderen lügen.«
»Wahrscheinlich stimmt das«, sagte Tom in der Hoffnung, dass man ihm sein Unbehagen nicht ansah und zunehmend davon überzeugt, mit seinem Kommen einen Fehler gemacht zu haben. »Vielleicht mit Ausnahme meiner Großmutter. Ich glaube nicht, dass sie es weiß.«
»Großmütter sind auch nicht unser Markt«, antwortete der mit Baseballkappe, Ray-Bans und ungepflegtem Dreitagebart ausstaffierte Mann. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, kreuzte die Joggingschuhe auf dem Schreibtischrand und deutete mit seinem dicklichen Finger auf Tom. »Zieh die Hosen hoch, geh etwas essen und sei um halb drei am Set. Wenn du einen Steifen kriegst, hast du den Job.«
Und so kam Tom ins Pornogeschäft. Sein Freund Hal vom Singing Lobster am Melrose Square hatte ihm erzählt, dass nach jungen Männern gesucht wurde, die schauspielern konnten und auch über die anderen notwendigen Qualifikationen verfügten. »Was soll’s?«, hatte Hal gesagt. »Du magst doch Mädels, oder? Und du wirst dafür bezahlt. Gut bezahlt sogar. Wenn du etwas Besseres findest, lass es mich wissen.«
Zunächst lehnte Tom die Idee rundweg ab. Aber irgendwann stellte er fest, dass er immer wieder darüber nachdachte. Und nach einiger Zeit rief er tatsächlich an.
Was ihn schließlich zu dem Entschluss trieb, war seine Bewerbung um eine Rolle in einer kleinen, unabhängigen Produktion. Es war noch nicht einmal eine große Rolle, aber sie war der Dreh- und Angelpunkt des gesamten Stücks. Er wusste so genau, wie sie gespielt werden musste, dass er in Gedanken schon einmal seine Dankesrede an die Academy entwarf. Natürlich wusste er, wie dumm das war. Aber er wusste auch, dass es durchaus dazu kommen konnte. Er wusste es einfach.
Die Rolle ging an einen Fernsehstar, der sein Image verändern wollte und außerdem zufällig mit der Agentin des Regisseurs befreundet war.
In der gleichen Woche schloss auch das Singing Lobster. Er musste sich angesichts der Welle neuerer und besserer Restaurants in der Umgebung schließlich geschlagen geben. Man schrieb das Jahr 1978. Das Lobster war alt, ohne die Tradition eines Musso, Franks, The Palm oder
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