Stadt der Lügen
des Drehortes und trank Kaffee. In letzter Zeit hatte er sich angewöhnt, in der Öffentlichkeit eine schwarze Sonnenbrille zu tragen. Sie half ihm über die Momente hinweg, wenn Fremde ihm einen zweiten Blick zuwarfen – meistens handelte es sich um Männer, nur sehr selten einmal war eine Frau dabei – und sich fragten, wo sie ihn schon einmal gesehen hatten.
Zunächst sah er sie nur im Spiegel, weil er mit dem Rücken zum Eingang saß. Das Lokal war recht voll. Sie stand mit einem Tablett in der Hand im Gang und sah sich nach einem freien Platz um.
Einem Impuls folgend, über den er sich sein Leben lang wundern würde, stand er auf und lud sie ein, sich auf den leeren Platz ihm gegenüber zu setzen. Sie zögerte. Er folgte einem weiteren Impuls und nahm die Sonnenbrille ab, denn er spürte, dass die dunklen Gläser abweisend wirkten. Sie lächelte, dankte ihm und setzte sich.
Tom betrachtete sie. Sie trug das Haar aus dem ungeschminkten Gesicht gestrichen. Sie hatte hohe Wangenknochen, eine feingeschnittene Nase, und ihre Stirn wölbte sich über kühlen grünen Augen, die fest und interessiert in die Welt hinausschauten. Ihre Lippen waren voll, und das mit einem kleinen Grübchen ausgestattete Kinn verlieh ihrem Gesicht eine gewisse Stärke.
»Arbeiten Sie hier in der Nähe?«, begann er, denn irgendwo musste er beginnen.
»Nein«, antwortete sie, »ich führe gerade eine Untersuchung durch.«
»Eine Untersuchung?«
»Ich studiere Soziologie an der Universität Los Angeles. Zur Zeit arbeiten wir an einem Forschungsauftrag über gemischtrassige Familien – Beziehungen untereinander, soziale Auswirkungen und so weiter und so fort.«
»Cool«, antwortete er. »Und wie kommen sie miteinander zurecht?«
»Sie haben ihre Höhen und Tiefen. Und Sie?«
»Die habe ich auch. Geht es uns nicht allen so?«
Sie biss in ihr Alfalfa-Sandwich und trank einen Schluck Wasser. Mit keiner Miene gab sie zu verstehen, dass sie seine Bemerkung witzig fand.
»Ich hatte eigentlich gemeint, was Sie so arbeiten«, sagte sie.
»Ich bin beim Film«, antwortete er.
»Aha«, bemerkte sie unbeeindruckt, »und was genau tun Sie da?«
»Ich bin Schauspieler«, erklärte er.
»In welchen Streifen haben Sie denn mitgespielt?«
»Ach, Sie haben mich bestimmt noch nicht gesehen.«
»Versuchen Sie es doch einfach.«
»In letzter Zeit habe ich eigentlich häufiger mit der Produktion zu tun.«
»Sind Sie Produzent?« Sie schien nicht sonderlich beeindruckt, sondern erkundigte sich eher mit einer höflichen Neugier, in die sich eine leise Ungläubigkeit mischte. Vielleicht auch Desinteresse. Der lange, weite Ärmel ihres langen, weiten Mantels schien sich wie zu einem ausgiebigen Gähnen zu öffnen, als sie die Wasserflasche an die Lippen führte. »Welche Art von Filmen produzieren Sie denn?«
»Wir haben uns auf bestimmte Fachgebiete spezialisiert, die Sie bestimmt nicht kennen.«
»Welche Fachgebiete?«
Tom dachte fieberhaft nach. Nach einer kleinen Ewigkeit hörte er sich sagen: »Meeresbiologie. Wir drehen Filme über Meeresbiologie.«
Zu seiner Erleichterung schien sie das Interesse zu verlieren. Sie redeten noch zehn Minuten über dieses und jenes, dann musste sie gehen. Er begleitete sie bis zur nächsten Ecke. Erst dann fiel ihm ein, an wen sie ihn erinnerte: an Carol-Anne. Leider zu Hause in Idaho.
»Jeder von uns lässt irgendwo ein Mädchen zurück«, hatte Hal einmal gesagt. »Allerdings nur mit etwas Glück. Wenn wir Pech haben, müssen wir zu ihr und den Kindern zurückkehren.«
Tom hatte sich nach Carol-Anne verzehrt. Er träumte von einer Zukunft mit ihr und so vielen Kindern, wie sie gerne bekommen hätte. Schon bei der ersten Begegnung konnte er sich eine lebenslange Zusammengehörigkeit vorstellen. Er sah sich Hand in Hand mit ihr alt und grau werden. Er wusste nicht, ob es einen immer so erwischte, wenn man siebzehn war; jedenfalls passierte es ihm kein zweites Mal. Irgendwann hatte er seinen ganzen Mut zusammengekratzt und ihr seine Gefühle gestanden. Sie war errötet und hatte ihm erklärt, er wäre wirklich nett, aber sie könne seine Gefühle nicht erwidern. Er wäre beinahe gestorben, als sie mit einem Bankierssohn aus Minneapolis fort ging, der die Sommerferien in Idaho verbracht hatte. Toms Liebeskummer war einer der Gründe gewesen, warum er auf die Schauspielschule gegangen war. Eines Tages, so dachte er, würde sie in Minneapolis ins Kino gehen und von dem Leben träumen, das sie mit dem
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