Stadt der Lügen
amüsierte sie, denn die meisten Passanten dort draußen versuchten, für jemanden gehalten zu werden, der sie nicht waren. Touristen bemühten sich, als Mitglieder des Jetset durchzugehen. Mittlere Angestellte ergingen sich im Flair viel größerer Kaliber. Agenten, die brav am Zebrastreifen auf Grün warteten, gaben verlogene, völlig leere Versprechen. Möchtegernschauspieler fanden sich zum Lunch in Restaurants ein und verhielten sich so unbekümmert wie ganz große Superstars. Viel zu schick gekleidete Ehemalige spazierten umher, als gehöre ihnen die Stadt. Fast jeder trug eine Sonnenbrille – entweder um nicht erkannt zu werden, oder um eine Ausrede zu haben, wenn er es nicht wurde. Das gehörte zum Spiel.
Gail Prentice kannte das Spiel. Sie hatte es lang und gut genug gespielt, um es jetzt hinter sich lassen zu können. In einer Stunde würde sie Mrs Gregory Conrad Jr. sein und in die dritte Generation der Upperclass von Hollywood einheiraten – und das in einer Gesellschaft, in der bereits zwei Generationen als Dynastie gelten. Drei Generationen boten Stoff für eine Legende. Aber auch sie selbst hatte das Zeug zu einer Legende, das wusste sie.
Ein erregtes Zittern durchlief ihren Körper. Ein Leben lang schon war ihr dieses Gefühl in Zeiten von Aufregung oder Anspannung vertraut. Eine gewisse sexuelle Komponente dabei konnte sie nicht ganz von der Hand weisen, aber es war mehr als das. Niemand, der sie ansah, merkte, dass es passierte. Manchmal fragte sie sich, ob in diesen Augenblicken ihr Blutdruck anstieg oder ihre Hirnströme ausschlugen, doch sie hatte sich nie die Mühe gemacht, es herauszufinden. Denn dann hätte sie darüber reden müssen, und das wollte sie auf keinen Fall.
Dieses Mal allerdings, wie jedes Mal im Verlauf der vergangenen Woche, folgte dem Schauer ein dunkles Erschrecken. Sie bekämpfte ihre Angst, indem sie sich erneut sagte, dass niemand so weit kam wie sie und gleichzeitig seines Glücks ganz sicher sein konnte. Sie war nicht der einzige Mensch auf dieser Welt, der den größten Teil seines Lebens vor den Fenstern der Reichen verbracht und neidvoll ins Innere gespäht hatte; doch immerhin war sie eine derjenigen, die hineingebeten worden waren.
Niemals würde sie das Gefühl völlig ablegen, nicht wirklich dazuzugehören. Aber damit mussten Leute wie sie nun einmal leben – diese leise Unsicherheit, die man zwar verbergen konnte, die aber niemals ganz verschwand. Darauf war sie vorbereitet. Und es war ein vergleichsweise geringer Preis für die glitzernde Zukunft, die ihr bevorstand.
Die Limousine glitt über die alten Bahngleise zwischen dem oberen Teil von Rodeo und Little Santa Monica und fuhr dann weiter Richtung Bel Air. Nachdem sie sich in ihren Betrachtungen unterbrochen sah, blickte sie hinüber zu dem Mann, der sie zum Traualtar geleiten würde: ihr Agent Ben Kanter.
»Nervös?«, fragte er.
»Ein wenig«, antwortete sie und lächelte ein entwaffnend verletzliches Lächeln. Seine Antwort erkannte sie in den tröstlichen Lachfalten in seinen Augenwinkeln. Sie wusste, dass er sie wirklich gern hatte.
Ben Kanter war Ende vierzig und vertrat Vaterstelle an ihr. Er sah ausgezeichnet aus und war dank seines täglichen Tennisspiels und mäßiger Mahlzeiten in hervorragender körperlicher Verfassung. Sein dichtes, langsam ergrauendes Haar ließ er zweimal wöchentlich schneiden, um den Eindruck gepflegter Lässigkeit zu erhalten. Er war nicht verheiratet und stand in dem Ruf, ein Weiberheld zu sein, aber er hatte ihr niemals Avancen gemacht. Seit sie vor zwei Jahren im Fernsehen von sich reden gemacht hatte, ließ sie sich von ihm vertreten. Er war von ihrer großen Zukunft überzeugt und hatte sie überredet, ihn die Verantwortung dafür übernehmen zu lassen. Ein guter Agent neigt nicht dazu, Arbeit und Vergnügen zu vermischen – zumindest nicht diese Art Vergnügen –, und Ben war wirklich gut. Dennoch war ihre Karriere nicht in das Fahrwasser gekommen, das sie beide erhofft hatten. Ein paar Fernsehfilme und die Hauptrolle in einer Miniserie hatten lediglich zu einigen mittelmäßigen Kinofilmen geführt, die nicht gerade zu Kassenschlagern wurden. Der zweite Film allerdings war von Crossover Films Inc. produziert worden, die der Familie Conrad gehörte. Und so hatte sie Greg kennen gelernt.
Überrascht stellte sie fest, dass sie Ben noch immer anstarrte. Ruhig und mit einem gleichzeitig fragenden und tröstlichen Lächeln nahm er ihre Hand und drückte sie. Er
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