Stadt der Lügen
tat genau das, was ein Vater in dieser Situation getan hätte, dachte sie. Ihr Vater hätte es gewiss getan, wenn sie einen gehabt hätte. Ben erfüllte seine Rolle geradezu perfekt.
Sie passierten die Kreuzung Sunset und Beverly Glen und fuhren nach rechts in das große, von Mauern geschützte Viertel Bel Air ein. Innerhalb der Mauern standen zahllose ebenfalls ummauerte Anwesen, von denen jedes in seiner Art in punkto Luxus der letzte Schrei war. Wieder verspürte sie den Druck im Magen. Binnen weniger Minuten würde sie von den berühmtesten Gesichtern der Welt umringt sein. Filmstars, die sie während ihrer trüben Kindheit maßlos bewundert hatte, würden sie in die Arme schließen und ihr Glück wünschen. Der monegassische Adel und sogar der englische würden vertreten sein. Ein französischer Baron, an dessen Bordeaux-Weinen sich alle anderen Weine messen lassen mussten, sollte ebenfalls anwesend sein. Drei der bekanntesten Modedesigner der Welt warteten auf sie. Mit Privatjets waren Gäste aus New York, Paris und Rom eingeflogen, die alle nichts anderes wollten, als der Hochzeit von Gregory Conrad, Sohn von Clark Conrad und Bruder von John und Stephanie Conrad, mit Ellen Norma Traynor beizuwohnen, deren Künstlername Gail Prentice lautete.
Der Druck in ihrem Magen verstärkte sich, als die große Villa im Kolonialstil in Sicht kam. Weiß behandschuhte Hände öffneten den Wagenschlag und luden sie ein, die säulenbestandene Veranda zu betreten. Der teure, dicke Teppich unter ihren Füßen war eigens so ausgesucht, dass er mit den Farben harmonierte, die sie an diesem Tag trug – ebenso wie die Blumen im Ballsaal und auf der Terrasse, wo der Empfang abgehalten werden würde.
An Bens Arm schritt sie vorwärts. Ein Orchester intonierte im kühlen Innenraum hinter den Doppeltüren den Hochzeitsmarsch. Und dann entdeckte sie aus dem Augenwinkel etwas, was auf keinen Fall hierher gehörte. Sie wandte den Kopf. Zwischen den Säulen stand ein Mann. Er trug einen billigen Anzug, Krawatte und schweres Schuhwerk. Die ungeschlachten Hände hielt er vor dem Körper gefaltet, und in seinen Augen lag eine Kälte, die ihr durch Mark und Bein ging.
Eine Stimme in ihrem Kopf wiederholte immer und immer wieder: Jetzt nicht, nicht so kurz davor, nicht jetzt …
Wie zur Bestätigung ihrer schlimmsten Befürchtungen brach die Musik abrupt ab. Zwei Gestalten lösten sich aus den Schatten. Die eine war der Polizist, der sie schon vor einer Woche verhört hatte, bei der anderen handelte es sich um Greg, der in seinem Hochzeitsanzug blendend aussah. Sein jungenhaftes Gesicht allerdings war grau vor Schreck.
Dann erschien Gregs Vater Clark Conrad. Mit schrecklicher Endgültigkeit schloss er die Doppeltür hinter sich und ließ so das fragende Murmeln der Gäste verstummen, die sie nun nie zu Gesicht bekommen würde. Clark Conrad starrte sie mit brennenden Augen an. In seinem Blick lag der gleiche Schreck wie in dem von Greg, doch sie erkannte auch eine schreckliche Wut. Sie wusste, dass es sich um die Wut gedemütigter Macht handelte – gedemütigt von etwas Unbedeutendem, geringer als Schmutz, das längst hätte ausgemerzt werden müssen.
Ben Kanter blickte verloren von den Conrads zu den Polizisten, dann zu Gail und wieder zurück. »Was ist denn hier los?«, fragte er vorsichtig.
Clark Conrad antwortete mit von mühsamer Selbstkontrolle halb erstickter Stimme. »Ihre Klientin, Mr Kanter«, sagte er zu dem Mann, den er seit zwanzig Jahren nie anders als Ben genannt hatte, »wird wegen Mordes gesucht.«
Die ungeheuerliche Behauptung hing mehrere Momente lang in der Luft. Eine geradezu unwirkliche Stille hüllte sie alle ein und schien sich zu vergrößern wie ein aus weiter Entfernung gefilmter Atompilz. Schließlich platzte die Blase mit einem guttural hervorgestoßenen »Wie finden Sie das?«.
Sie wusste, dass sie nicht ohnmächtig werden würde. Doch sie fühlte sich, als wäre sie nicht wirklich anwesend. Unbeweglich und völlig starr hörte sie zu, wie der jüngere der beiden Polizisten ihr ihre Rechte vorlas.
»Ellie, bist du das?«
Sie hatte versucht, die Tür leise zu schließen, damit ihre Mutter nichts hörte. Sie versuchte es jedes Mal, und jedes Mal hörte ihre Mutter sie doch.
»Du bist spät dran. Bring mir meinen Saft – ich habe schrecklichen Durst.«
Das kleine Mädchen ging in die Küche. Der Raum war noch mit einem Rollo abgedunkelt, obwohl draußen heller Nachmittag war. Die Kleine
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