Stadt der Lügen
Männer begehrten sie noch immer, das wusste sie. Die Sache mit Bob war während der letzten zwölf Monate ganz in Ordnung gewesen, doch allmählich flaute die Leidenschaft ab. Es war ganz offensichtlich, dass sie das Interesse aneinander verloren hatten, und manchmal fragte sie sich, warum es trotzdem weiterlief. Irgendwann demnächst würde sie ihn wohl rausschmeißen. Denn ihr blieb nicht mehr viel Zeit, und sie hatte noch einen großen Plan.
Der große Plan war ein eigenes kleines Geschäft. Sie wusste noch nicht genau, ob es eine Bar, ein Restaurant, ein Blumenladen oder ein Dessousgeschäft werden würde, aber ihr war klar, dass sie durchaus Geschäftssinn mitbrachte, den sie in jedem Fall anwenden konnte. Sie brauchte nur noch den richtigen Mann, der ihr finanziell ein wenig den Rücken stärkte und ihr über die ersten Hürden half. Danach würde sie allein klarkommen.
Ellie verabschiedete sich an der Wohnungstür von ihrer Mutter. »Schließ die Tür hinter dir ab, hörst du?«, sagte Mae und fuhr mit einem Finger in ihren Ausschnitt, um den Büstenhalter zu richten. »Bob wird gegen Mitternacht zurück sein. Dann solltest du allerdings schon schlafen, sonst gibt es Ärger.«
Die Kleine sah der Mutter nach, bis sie außer Sichtweite war.
Sie fand, dass diese selbst unter diesen trübseligen Verhältnissen immer irgendwie glamourös und dramatisch wirkte. Manchmal sah sie von der Tür aus zu, wie Mae sich schminkte, ihr naturblondes Haar frisierte, sich mit exotischen Düften parfümierte und schließlich aufstand wie ein Star, der sich auf die Bühne begibt.
Zumindest kam es Ellie so vor. Ihrer Meinung nach war Mae trotz ihrer Fehler eine tolle Mom. Manchmal, wenn sie beide allein waren, erzählte sie von Leuten, die sie kennen gelernt, und Angeboten, die man ihr gemacht hatte, und von den herrlichen Zeiten früher. Es war einfach zauberhaft. Ellie kannte keine andere Mom, die so erzählen konnte. Leider endeten solche Abende immer damit, dass Mae sich betrank und schlechte Laune bekam. Wenn Ellie die ersten Anzeichen dafür bemerkte, verdrückte sie sich, ehe Mae gewalttätig wurde. Einmal hatte sie fast eine ganze Nacht draußen verbracht und sich erst wieder ins Haus gewagt, als bereits der Morgen dämmerte.
Aber das spielte keine Rolle. Sie liebte ihre Mutter. Und deshalb behielt sie auch viele Dinge für sich – Dinge, die ihre Mutter nicht zu wissen brauchte.
Kurz vor Mitternacht hörte Ellie den Schlüssel im Schloss. Hellwach und mit klopfendem Herzen lag sie zusammengerollt in ihrem Bett. Es war das Geräusch, vor dem sie sich gefürchtet hatte, aber gleichzeitig war da auch noch etwas anderes, ein Gefühl, das sie nicht verstand.
Sie hoffte inbrünstig, dass man ihr vergeben würde – würde vielleicht Gott ihr vergeben? –, wenn die Sache eines Tages herauskam. Aber sie glaubte nicht wirklich daran.
»Mae?«, rief Bob, erhielt aber keine Antwort. Noch einmal rief er. Ellie hörte, wie Maes Zimmertür geöffnet und gleich wieder geschlossen wurde, als Bob das Zimmer leer fand.
Seine Schritte kamen den Korridor entlang auf Ellies Zimmer zu …
Als Ellie Traynor acht Jahre später nach Hollywood kam, hatte sie ihren Namen schon in Gail Prentice geändert. Man schrieb das Jahr 1966. Die ganze Welt war in Partylaune.
Sechs Monate zuvor war Mae gestorben, nachdem sie ihre letzten drei Lebensjahre mehr oder weniger in Entzugskliniken verbracht hatte. Zwei Jahre vor dieser Entwicklung hatte Mae in Ermangelung besserer Partien ihre Ansicht über die Ehe geändert und Bob aufgefordert, entweder das Aufgebot zu bestellen oder aus ihrem Leben zu verschwinden. Er gab ihrem Erpressungsversuch mit einer Bereitschaft nach, die Mae fälschlicherweise ihren eigenen sinnlichen, aber zunehmend schlampiger werdenden Reizen zuschrieb. Natürlich war es unvermeidlich, dass sie eines Tages unerwartet nach Hause kam und Ehemann und eigene Tochter miteinander im Bett erwischte. Das passierte zwei Monate vor Ellies fünfzehntem Geburtstag.
Mae bekam einen Nervenzusammenbruch und wurde in eine Klinik eingeliefert. Danach war sie nie mehr zu einem einigermaßen normalen Leben fähig.
Maes Tragödie stellte für Ellie überraschenderweise eine Befreiung dar. Die Schläge, die sie während der Zeit ihres Missbrauchs hatte ertragen müssen, schienen eine merkwürdig reinigende Wirkung ausgeübt zu haben. Wo sie sich bisher beschmutzt fühlte, verspürte sie plötzlich das Gefühl einer inneren
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