Stadt der Lüste
ihr ein jugendliches Aussehen. Auf Emma wirkte sie wie die mittlere von drei Schwestern – nicht so verzogen oder verhätschelt wie die jüngste, aber auch nicht so selbstsicher oder kämpferisch wie die älteste. Catherine hatte angedeutet, dass Sonia schon seit einer Ewigkeit Single war, und Emma empfand Mitleid mit ihr.
Das Meeting mit den Rayners fand in deren Haus in Kensington statt. Emma hatte die Akte durchgearbeitet und sich kurz mit Malcolm unterhalten. Da er weder die Familie noch Loftwohnungen mochte, durfte sie sich allein um die Rayners kümmern. Ed hatte ein paar dumme Kommentare darüber abgegeben, schließlich aber die Klappe gehalten.
Ian Cameron näherte sich mit einem Stapel Unterlagen ihrem Schreibtisch.
»Bitte schön«, sagte er und legte ihr die Papiere mit selbstzufriedenem Gesichtsausdruck vor. »Gerade noch rechtzeitig, wie immer.«
Die Akten enthielten Einzelheiten über die beiden Lofts. Die zahlreichen Hochglanzfotos wurden durch äußerst blumige Beschreibungen der einzelnen Räume ergänzt.
»Hast du die Fotos gemacht?«, fragte sie Ian.
»Nein, dafür haben wir einen Fotografen. Ein paar Schnappschüsse mit der Digitalkamera genügen Lomax nicht.«
»Hast du denn wenigstens die Texte geschrieben?«
»Nein, nein, ich bin hier nur eine Art Mädchen für alles. Ich bin fürs Abtippen, Kopieren und Anordnen der Fotos zuständig. Die Texte schreibt immer derjenige,der selbst in der Wohnung war. Manchmal werden sie auch ganz speziell für einen Kunden angefertigt.«
Die Unterlagen waren wirklich imponierend. Die hochwertigen Fotografien und die gut aufbereiteten Informationen machten einen sehr viel professionelleren Eindruck als alles, was Emma aus ihren bisherigen Erfahrungen mit Immobilienmaklern kannte.
»Danke«, sagte sie. »Das wird mir die Sache um einiges erleichtern.«
»Hast du die Adresse der Rayners?«
»Ja.«
»Na dann viel Spaß«, wünschte er ihr vergnügt.
In ihrer ersten Woche in der Agentur hatte Emma die meiste Zeit damit verbracht, sich die Kataloge der Wohnungen und Häuser anzusehen, die zum Verkauf standen oder vermietet werden sollten. So gewann sie einen Überblick darüber, welche Sorte von Immobilien Lomax anbot. Malcolm ließ sie weitestgehend in Ruhe, und sie bat ihn auch nicht allzu oft um Arbeit. Es genügte ihr zunächst, den Kopierer zu bedienen und ab und zu einen Brief zu schreiben oder eine Mietvereinbarung abzutippen. Doch irgendwann würde sie sich mehr mit dem eigentlichen Geschäft befassen müssen. Die Besprechung bei den Rayners war ein erster Schritt in diese Richtung. Schon bald würde Emma dafür sorgen, dass sie stärker einbezogen wurde.
Das Haus der Rayners war beeindruckend, genau so, wie sie es erwartet hatte. Der Vater, John Rayner, leitete eine Art Familienunternehmen, das auf dem internationalenMarkt mit Antiquitäten und Kunst handelte. Seine Frau Elaine war Psychotherapeutin mit erfolgreicher eigener Praxis. Catherine hatte Emma erzählt, dass John Kunst zu horrenden Preisen verkaufte und Elaine seinen Kunden hinterher half, den Kauf rational zu verarbeiten – die perfekte Verbindung zwischen Kommerz und Therapie. Beide waren starke, unabhängige Persönlichkeiten, die gemeinsam eine harte Front bilden konnten, falls dies nötig war – besonders, wenn es um ihren Sohn ging. Matthew war zweiundzwanzig, Einzelkind und wohnte immer noch zu Hause. Laut Catherine hatte er die Universität ein Jahr früher als gewöhnlich abgeschlossen.
Um Punkt drei Uhr klingelte Emma, und kurz darauf wurde die Tür von einem hochgewachsenen Mann mittleren Alters geöffnet, der einen braunen, ein wenig zu engen Tweedanzug trug. Er hatte graumeliertes Haar und ein breites Gesicht mit ausgeprägtem Kiefer und hoher Stirn. Aus der Brusttasche seines Jacketts ragte eine Lesebrille. Sein Aussehen bewegte sich irgendwo zwischen Uniprofessor und Filmstar, und Emma fühlte sich sofort zu ihm hingezogen.
»Emma Fox?«, fragte er.
»Ja, ich komme von Lomax«, erwiderte sie.
»Ich bin John Rayner. Bitte treten Sie ein.«
Seine Art zu sprechen – mit vielen harten Konsonanten und gedehnten Vokalen – verriet, dass er aus der Umgebung von London stammte. Er führte sie durch einen galerieartigen Flur in einen großen Raum mit hohen Fenstern, Spiegeln an den Wänden und zahlreichen gläsernen Oberflächen. Das Licht wurde indie verschiedensten Richtungen reflektiert, so dass der Raum wirkte, als bestände er ganz aus Glas. Eine große Frau
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