Stadt der Masken strava1
haben Feinde. Menschen, die eure Welt ausbeuten und ihre Wunder hierher bringen möchten.«
»Ihre Wunder?«, fragte Lucien. »In meiner Welt gibt es keine Wunder. Sie ist völlig banal.«
»Und doch könnt ihr große Menschenmengen in Metallbehältern unter der Erde und auf der Erde und sogar in der Luft transportieren!«, sagte Rodolfo. »Ihr habt Maschinen, in die ihr hineinsprechen und Abendessen bestellen könnt und Maschinen, die es euch dann bringen. Ihr habt viele Arten, mit Leuten in Kontakt zu treten, die meilenweit von euch entfernt leben, und ihr könnt die Bücher aus Bibliotheken in anderen Ländern lesen. Ist das nicht alles ein Wunder?«
»Nein«, sagte Lucien. »Ich verstehe, dass es Ihnen so vorkommen muss, weil Sie keine Flugzeuge und kein Internet und keine Handys haben. Aber Wunder sind das alles nicht – es sind Erfindungen. Sie verstehen schon, Technologie –
Wissenschaft.«
Rodolfo schien nicht überzeugt. »Was ich hier in meinem Laboratorium mache, ist Wissenschaft«, sagte er. »Aber lassen wir das mal beiseite. Es ist eure Art der Wissenschaft, die ich als Zauberei, als Wunder bezeichne, hinter der die Chimici her sind.«
»Die Kimitschie«, wiederholte Lucien. »Sind das Ihre Feinde?«
Rodolfo nickte. »Das ist eine der ältesten Familien in Talia. Eine große Familie, die ständig heiratet und sich vermehrt. Jede Stadt in Talia außer einer wird von ihnen regiert. Vielleicht nicht gerade offiziell. Doch sie sind die Macht hinter jedem Herzogtum und jedem Fürstentum im Lande, außer diesem hier, außer der Stadt Bellezza. Selbst der Papst ist einer von ihnen.«
»Der Papst?«, fragte Lucien überrascht. »Sie haben einen Papst?«
»Gewiss«, erwiderte Rodolfo. »Ihr etwa nicht? Unserer regiert offiziell von Remora aus. Doch sein älterer Bruder, Niccolo di Chimici, hat tatsächlich das Sagen.«
»Was würden die Chimici denn machen, wenn sie in meine Welt kommen würden?«, wollte Lucien wissen.
»Wenn sie nicht nur in eure Welt, sondern auch noch in eure Zeit gelangen würden«, sagte Rodolfo, »dann würden sie alle möglichen Wunderdinge mitbringen: Heilmethoden für Krankheiten, Zauber, mit denen man aus unbeweglichen Dingen bewegliche machen kann, geheimnisvolle Waffen, die aus der Ferne töten und verstümmeln können… Muss ich fortfahren?«
»Und die Stravaganti?«, fragte Lucien. »Was machen die? Nehmen die nichts von diesen Sachen?«
»Nein«, sagte Rodolfo ruhig. »Sie – oder ich könnte auch ›wir‹ sagen, da du jetzt einer von uns bist, ob es dir gefällt oder nicht – wir nehmen nichts mit aus eurer Welt, außer es garantiert eine sichere Rückkehr. Wir bewachen das Geheimnis dieser Art von Reise. Seit Doktor Dethridge seine erste Reise machte, rein zufällig, war jemand nötig, der alle Reisen zwischen unseren Welten beobachtet.«
Lucien runzelte die Stirn. »Einen Moment. Da ist was, das versteh ich nicht. Eigentlich versteh ich gar nichts, aber haben Sie nicht gesagt, dass der Doktor vor vielen hundert Jahren in meiner Welt lebte?«
»Ja, im sechzehnten Jahrhundert. In der Zeit von Shakespeare und Königin Elisabeth.«
»Die haben wir jetzt auch wieder«, sagte Lucien. »Keinen Shakespeare, aber eine Elisabeth. Aber wenn Sie nichts über Supermärkte oder die U-Bahn wissen und so altmodische Klamotten tragen, in welchem Jahrhundert leben Sie?«
Rodolfo seufzte. »Leider immer noch im sechzehnten. Deshalb sind die Chimici so versessen darauf, eure Wunder des zwanzigsten Jahrhunderts in die Finger zu bekommen.«
»Inzwischen haben wir das einundzwanzigste«, sagte Lucien abwesend. Seine Gedanken überschlugen sich. Allmählich begann er die Lage etwas mehr zu begreifen, auch wenn es in seinem Verständnis noch große Lücken gab. »Sie wollen sagen, dass die Chimici es nicht abwarten wollen, bis diese Dinge hier erfunden werden? Sie möchten die Zivilisation sozusagen vorantreiben?«
Rodolfo sah ihn bekümmert an. »Falls man das Zivilisation nennen kann, wenn Unmengen von Menschen mit einem Schlag getötet werden, dann ist es wohl genau das, was sie wollen, ja.«
»Aber es ist ja nicht alles so negativ«, wehrte sich Lucien. »Sie haben es ja selbst angesprochen, man könnte gewisse Krankheiten heilen und dergleichen.«
»Wäre das ungefährlich? Würden die Chimici wissen, wie man mit dem Zaubermittel umgeht, von dem man erwartet, dass es dir hilft?«
Lucien hatte irgendeinen verrückten Schurken in Samtumhang vor Augen, der versuchte einem
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